Die regenerative Kraft der Vorläuferzellen
Der Magen-Darm-Trakt ist so etwas wie ein Kraftwerk, in dem Nahrung in Lebensenergie umgewandelt wird. In dieser Fabrik haben Leber, Galle und Bauchspeicheldrüse die Funktion der Fließbandarbeiter, die den ganzen Prozess überhaupt erst ermöglichen und am Laufen halten: Sie produzieren die Sekrete, die gebraucht werden, um den Nahrungsbrei im Darm in seine Nährstoffe aufzuspalten und dann in den Blutkreislauf einzuspeisen.
Die drei Organe erfüllen diese wichtige Aufgabe in enger Nachbarschaft im Oberbauch. Bereits während der Embryonalentwicklung scheinen sie sich in ihrer Entwicklung gegenseitig zu beeinflussen. Die Bauchspeicheldrüse entwickelt sich aus zwei spezifischen Anlagen, die sich im Bereich des künftigen Zwölffingerdarms am Darmrohr – dem späteren Magen-Darm-Trakt – gegenüberliegenden. Eine dieser Bauchspeicheldrüsenanlagen entsteht in unmittelbarer Nähe zu den Anlagen der zukünftigen Leber, der Gallenblase und der Gallenwege.
Anders als bislang angenommen, wachsen die Organe nicht unabhängig voneinander heran. Eine Forschungsgruppe um Professorin Francesca Spagnoli vom King’s College in London hat herausgefunden, dass sie sich aus einem gemeinsamen Pool von Vorläuferzellen entwickeln, die ihre Plastizität während der Organentwicklung beibehalten. Vor ihrem Start am King’s College leitete Francesca Spagnoli am MDC die Arbeitsgruppe „Molekulare und zelluläre Grundlagen der embryonalen Entwicklung“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC).
Zellplastizität für regenerative Therapien nutzen
Ihre Erkenntnisse beschreiben die Forscher*innen nun im Fachjournal „Nature“. „Wir vermuten, dass die multipotenten Vorläuferzellen ihr Differenzierungspotenzial durch Signale aus dem angrenzenden Darm beibehalten“, sagt Erstautor Dr. David Willnow. Zum Zeitpunkt der Studie war er Doktorand am Berlin Institute of Health (BIH) und in der MDC-Arbeitsgruppe von Francesca Spagnoli. Mittlerweile ist er ihr nach London gefolgt. Die Wissenschaftlerin erforscht bereits seit vielen Jahren die Mechanismen bei der Entstehung von Leber und Bauchspeicheldrüse. Dabei interessiert sie vor allem: Welche gemeinsamen Vorläuferzellen haben die Leber und die Bauchspeicheldrüse, wie unterscheiden sich diese und wie nehmen sie eine spezielle Form an, um funktionelle Organe zu bilden? Wie plastisch sind diese zellulären Zustände? Kann die Zellplastizität zwischen Leber und Bauchspeicheldrüse für neuartige, regenerative Therapien, beispielsweise bei Diabetes, genutzt werden?
Mit der jetzt in „Nature“ publizierten Arbeit erweitern die Forscher*innen das derzeitige Verständnis der zellulären Prozesse, die die frühe Organentwicklung steuern. Die Aufrechterhaltung multipotenter Vorläuferzellen in einem sich entwickelnden Organ könnte einen ähnlichen Zweck erfüllen wie die Stammzellnische in einem erwachsenen Gewebe. Als Stammzellnische wird ein Areal innerhalb eines Organismus bezeichnet, in dem Stammzellen verlässlich für Zell-Nachschub sorgen. Sie können sich in Vorläuferzellen umwandeln, aus denen differenzierte Zellen hervorgehen, die sich beispielsweise in die Leber einfügen. Indem sie sich unendlich selbst erneuern können, stellen die Stammzellen gemeinsam mit den Vorläuferzellen das physiologische Gleichgewicht des Organismus sicher: Sie können abgestorbene Zellen ersetzen und die Regeneration des Gewebes bewirken. So verbessern sie seine Widerstandsfähigkeit während der Organentwicklung – zum Beispiel nach einer Entwicklungsverzögerung oder dem Verlust einer Zellpopulation. Wird eine multipotente Vorläuferdomäne nicht aufrechterhalten, kann dies zu Mutationen sowie zu Fehlbildungen in Leber, Bauchspeicheldrüse und Gallenblase führen.
Mechanismen von Fehlbildungen aufdecken
Um nachzuweisen, dass multipotente Vorläuferzellen das Potenzial haben, den Gewebeabschnitt zu besiedeln, aus dem heraus sich Leber, Gallenblase und Bauchspeicheldrüse bilden, haben David Willnow und das Spagnoli-Labor computergestützte Modellierungen mit genetisch veränderten Mausmodellen kombiniert. Die Computer-Modelle dafür erstellte das Team von Professorin Jana Wolf, die am MDC die Arbeitsgruppe „Mathematische Modellierung zellulärer Prozesse“ leitet. „Wir haben Computermodelle entwickelt, die die zeitliche Entwicklung der verschiedenen Zellpopulationen anhand der biologisch möglichen Szenarien quantitativ beschreiben. Die Parametrisierung dieser Modelle anhand der experimentell erhobenen Daten führte zu der Vorhersage, dass es Plastizität zwischen den Zellpopulationen geben muss, was im Tiermodell bestätigt werden konnte.“
„In einem nächsten Schritt werden wir plastische multipotente Zellpopulationen beim Menschen untersuchen mit dem Ziel, ihr Potenzial für die regenerative Medizin zu nutzen“, sagt David Willnow. Dies könnte auch dazu beitragen, die Mechanismen aufzuklären, die menschlichen genetischen Syndromen sowie Fehlbildungen in Leber, Bauchspeicheldrüse und Gallenblase zugrunde liegen.
Weitere Informationen
Dr. Francesca Spagnoli, King’s College London
Literatur
David Willnow et al (2021): Quantitative lineage analysis identifies a hepato-pancreato-biliary progenitor niche. Nature, DOI: doi.org/10.1038/s41586-021-03844-1
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Lichtblattmikroskopischer Scan des hepatopankreatisch-biliären Systems und des Magen-Darm-Trakts eines Mausembryos, immungefärbt für die Transkriptionsfaktoren Pdx1, Sox17 und CK19. Foto: Willnow, Spagnoli, KCL