Eine Wegbereiterin der Einzelzell-Sequenzierung
Dr. Ashley Sanders nimmt am Kopfende des Tisches Platz, ihr Stammplatz bei den wöchentlichen Laborbesprechungen. Marcella Franco, eine Doktorandin in ihrem Labor, präsentiert ihren Kolleg*innen die Sequenzierungsdaten ihrer ersten Patient*innenprobe – Zellen einer Person mit der Autoimmunerkrankung Lupus.
Für flüchtig Beobachtende sehen die Daten wie abstrakte Kunst aus – Muster aus farbigen Linien und ein Häufchen leuchtender Punkte. Aber diese Daten sind eine wahre Fundgrube an Informationen. Es ist das erste Mal, dass jemand nach strukturellen Veränderungen – Löschungen, Umkehrungen, Verdopplungen oder Verschiebungen – in der DNA einzelner Zellen einer Person mit Lupus sucht. Franco möchte Abweichungen identifizieren, die zu der Krankheit beitragen könnten.
Für Krebs ist das Konzept, wie genetische Mutationen die Krankheit verursachen und fördern, bekannt. Bei anderen Krankheiten ist die Rolle von Mutationen bisher nur unzureichend untersucht. Solche Erkenntnisse könnten die Entwicklung neuer Ansätze für die personalisierte Medizin auf Einzelzellbasis ermöglichen.
„Das Unbekannte ist der Raum, in dem wir arbeiten“, sagt Sanders, Gruppenleiterin am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center (MDC-BIMSB).
Sanders gilt als Vorreiterin auf dem Gebiet der Einzelzell-Sequenzierung. Sie half bei der Entwicklung einer neuen Technologie, die unsere langjährigen Annahmen und das gängige Bild des „normalen“ Genoms infrage stellte. Ihre Forschung wirft zudem interessante Fragen darüber auf, ob Mutationen in somatischen Zellen – Zellen, die erst nach der Befruchtung entstehen und daher nicht vererbt oder weitergegeben werden – zu anderen Krankheiten als Krebs, insbesondere zu entzündlichen Erkrankungen, beitragen.
Ist ein Gewebe zum Beispiel wegen einer Entzündung erkrankt, könnte diese Umgebung Zellen mit ganz bestimmten Arten von Genomvariationen (Subklone) begünstigen, legt ihre Forschung nahe. Und wenn sich diese Subklone vermehren, können sie in einer Rückkopplungsschleife zum Fortschreiten der Krankheit beitragen. Sie könnten auch die Art und Weise verändern, wie Zellen auf Umweltreize oder sogar auf eine Behandlung reagieren. „Für Krebs ist das Konzept, wie genetische Mutationen die Krankheit verursachen und fördern, bekannt. Bei anderen Krankheiten ist die Rolle von Mutationen bisher nur unzureichend untersucht“, sagt Sanders. „Solche Erkenntnisse könnten die Entwicklung neuer Ansätze für die personalisierte Medizin auf Einzelzellbasis ermöglichen.“
Neue Tools für die Einzelzell-Sequenzierung
In den letzten zehn Jahren hat sich die Einzelzell-Sequenzierung zu einer etablierten Methode entwickelt. Zwischen 2012 und 2017 haben die National Institutes of Health der USA ein Programm namens „Common Fund“ ins Leben gerufen, um die Forschung im Bereich der Einzelzell-Genomik zu unterstützen. Diese Finanzierung ermöglichte es Forscher*innen, neuartige Instrumente zu entwickeln, um einzelne Zellen auf eine Art und Weise zu analysieren, die zuvor unmöglich war.
Die meisten Forscher*innen nutzen die Technologie, um RNA in einzelnen Zellen zu untersuchen. Vermutlich weil RNA häufiger vorkommt und leichter zu isolieren ist, sagt Sanders. In einer einzelnen Zelle können Tausende Kopien eines RNA-Transkripts vorliegen, und sie alle basieren auf einer gemeinsamen RNA-Sequenz. Dadurch lassen sie sich leichter extrahieren.
Im Gegensatz dazu findet sich DNA in einer einzelnen Zelle nur in zwei Kopien (einer mütterlichen und einer väterlichen), was die Analyse erheblich erschwert. Folglich wandten Forscher*innen Einzelzell-Sequenzierung nur selten auf DNA an. Außerdem nahm man an, dass alle Zellen eines Menschen auf genau die gleiche DNA-Sequenz zurückgreifen, sagt Sanders. Eine DNA-Sequenzierung auf Einzelzellebene erschien ihnen sinnlos, fügt sie hinzu. Es blieb bis vor kurzem ein Nischenthema.
Die Geburt einer neuen Technik
Sanders' Fokus auf strukturelle Änderungen der DNA in einzelnen Zellen kam fast zufällig zustande. Während sie ihre Doktorarbeit an der University of British Columbia bei Professor Peter Lansdorp verfasste, bemerkte sie, dass sie mit der von ihr angewandten Einzelzell-DNA-Technik genomische Inversionen identifizieren konnte – große Segmente des Genoms, bei denen die DNA-Sequenz in ihrer Ausrichtung umgedreht ist. Aber Sanders hätte nie für möglich gehalten, dass sich daraus etwas entwickeln würde. Sie ging davon aus, dass sich niemand für Inversionen interessiert, sagt sie.
Im Jahr 2016 hörte Professor Jan Korbel, Leiter der Datenwissenschaft am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg, wie Sanders ihre Daten auf einer Tagung vorstellte. Er erkannte sofort das Potenzial. „Ich war fasziniert“, erinnert sich Korbel. „Ich dachte: Diese Technik kann bestimmt mehr als nur Inversionen erkennen. Das war sehr cool.“
Korbel war damals Vorsitzender des „Human Structural Variation Consortium“. Das Konsortium hatte mit viel Mühe nach Inversionen gesucht, hatte aber mit wenig Erfolg, sagt Sanders. „Als ich mit meiner bescheidenen Technologie auftauchte und sagte: ‚Übrigens, wir können Inversionen finden‘, waren sie total begeistert. Das war wirklich ein Wendepunkt meiner Karriere.“
Korbel bat Sanders, als Postdoktorandin in sein Labor zu kommen. Gemeinsam mit einem Team am EMBL verbesserten sie ihre Technik zur DNA-Einzelzell-Sequenzierung und entwickelten Strand-seq, um alle Arten von Strukturvarianten in Einzelzellen zu identifizieren und zu charakterisieren. „Manchmal sage ich scherzhaft, dass es wohl nur fünf Menschen auf der Welt gab, die sich für Inversionen interessierten, und ich habe sie gefunden“, sagt Sanders lachend.
So funktioniert es
Die meisten verfügbaren genetischen Daten basieren auf einem Durchschnittswert, der aus der Sequenzierung von Millionen von Zellen gewonnen wird, erklärt Sanders. Diese Art der DNA-Sequenzierung, die Bulk-Sequenzierung, ist jedoch nicht empfindlich genug, um die meisten Arten von Strukturveränderungen der DNA, insbesondere Inversionen, zu erkennen.
Strand-seq verfolgt einen anderen Ansatz. Im Gegensatz zur Bulk-Sequenzierung, bei der Sequenzdaten aus einer Mischung von Zellen und DNA-Strängen gewonnen werden, nutzt Strand-seq die Richtungsabhängigkeit der DNA. Sie sequenziert beide Stränge der DNA-Doppelhelix für jede Zelle. Wenn die Forscher*innen Informationen von beiden DNA-Kopien jeder einzelnen Zelle haben, können sie sich sicherer sein, dass jede festgestellte Abweichung tatsächlich zutrifft.
Am besten stellt man sich dazu eine Reihe verschiedenfarbiger Legosteine vor, bei der die Abfolge der Farben genau der in der Bauanleitung entspricht – bis auf einen Stein. Hat die Person, die diese Reihe gebaut hat, einen Fehler gemacht? Oder hat sie diesen Stein absichtlich an dieser Stelle platziert? Man könnte die Frage nicht beantworten, ohne die Person zu fragen. Nehmen wir nun aber an, dieselbe Person hat eine ergänzende Reihe von Legosteinen in genau umgekehrter Farbfolge gebaut. Wenn wieder derselbe Block nicht mit der Abbildung in der Anleitung übereinstimmt, kann man mit größerer Sicherheit davon ausgehen, dass beide Blöcke absichtlich platziert wurden.
Da andere Technologien nicht beide Stränge der komplementären DNA sequenzieren, können Forschende in diesen Fällen nicht mit Sicherheit sagen, ob eine gefundene Variation wirklich echt ist oder ein Fehler, erklärt Korbel. „Mit Strand-seq haben wir eine doppelte Verifizierung“, sagt er. „Wir sehen Muster, die wahrscheinlich nicht rein zufällig auftreten.“
Neue Erkenntnisse über Genom-Variationen
Die Technologie hat bereits für Überraschungen gesorgt. In „Nature Genetics“ berichteten Sanders und Korbel kürzlich, dass das Erbgut von einer von 40 Blutzellen gesunder Menschen strukturelle Variationen aufweist. Man ging immer davon aus, dass jede Zelle im Körper auf die gleiche DNA zurückgreift – jede Abweichung galt als unnormal und als Kennzeichen einer Krankheit. Wenn aber in Zellen von Menschen, die allem Anschein nach gesund sind, die DNA-Struktur ebenfalls variiert, dann tritt genomischer Mosaizismus weitaus häufiger auf als bisher angenommen. Er könnte einfach Teil der normalen genetischen Variation sein.
Welche Bedeutung diese Erkenntnis hat, ist noch unklar. Zwar hat das Team bei Menschen über 60 Jahren tendenziell mehr Zellen mit strukturellen Varianten gefunden. Die Probe einer Studienteilnehmerin, die über 90 Jahre alt war, hatte aber laut Sanders keine strukturellen Varianten. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutation in Blutzellen auftritt, war außerdem unabhängig vom Alter gleich groß.
„Das hat mich wirklich schockiert“, sagt Sanders. „Bisher war die Annahme, dass das Risiko von Mutationen mit dem Alter steigt.“
Überraschender Erfolg
Sanders ging nie davon aus, dass sie einmal an eine Hochschule gehen, geschweige denn Wissenschaftlerin werden würde. Die gebürtige Kanadierin ist die Erste in ihrer Familie, die die Highschool abgeschlossen hat. „Es gab keine Erwartungen an mich nicht, nicht einmal von mir selbst“, sagt Sanders. „Ich bin einfach offen und neugierig geblieben. Ich habe keine Angst davor, mich neuen Herausforderung zu stellen, auch wenn mir die Erfahrung fehlt.“
Mein Ziel ist es, Wissen zu schaffen, das der Gesellschaft zugutekommt. Das können wir am besten zusammen erreichen, im Team. Wissen ist das, was uns antreibt und verbindet. Und wir alle haben so viel Spaß im Labor.
Sie staunt über die enormen Fortschritte in ihren Forschungsbereich in den letzten zehn Jahren. Vor zehn Jahren erntete Sanders noch verwirrte Blicke von ihren Kolleg*innen, weil diese den Sinn der Sequenzierung einzelner Zellen nicht verstanden. Heute hat „Strand-seq das Feld, wie strukturellen Variationen erkannt werden, insgesamt verändert“, sagt sie. Die Technik wird inzwischen in anderen Forschungsgebieten angewendet, wie etwa im Artenschutz und in der Evolutionsbiologie. Und sie verbessert die Genauigkeit anderer genomischer Methoden. Nun hofft Sanders, dass man mit ihrer Hilfe entzündliche Erkrankungen wie Lupus besser verstehen und den Krankheitsverlauf erforschen kann.
Während ihrer Laborbesprechung gibt Sanders ihrer Doktorandin Franco Tipps, wie diese ihre Daten präsentieren kann. Da bisher nur wenige Proben von Lupus-Erkrankten analysiert wurden, lassen sich noch keine eindeutigen Schlüsse ziehen, ob Strukturvariationen in einzelnen Zellen zur Krankheit beitragen.
Aber Sanders sind ihre Studierenden genauso wichtig wie die Daten. Sie entschied sich für die Forschung und gegen die Industrie, weil sie das Mentoring begeistert. „Ich möchte großartige Wissenschaftler*innen hervorbringen und einen Beitrag für zukünftige Generationen leisten“, sagt sie. Sie selbst hatte eine Mentorin, die sie sehr schätzte: Ester Falconer. Wenn Sanders Falconer danken wollte, dann riet diese ihr, „später etwas zurückgeben“.
Natürlich wolle sie auch großartige Wissenschaft betreiben, fügt sie hinzu, aber ihr Ziel ist nicht Anerkennung oder Ruhm: „Mein Ziel ist es, Wissen zu schaffen, das der Gesellschaft zugutekommt. Das können wir am besten zusammen erreichen, im Team. Wissen ist das, was uns antreibt und verbindet. Und wir alle haben so viel Spaß im Labor.“
Text: Gunjan Sinha