Einmal um den halben Globus - und vielleicht wieder zurück

Am MDC kennen bestimmt noch viele Tiago. Von 2007 bis 2010 hat der gebürtige Brasilianer hier seine Dissertation zum Thema „Systembiologische Analyse des Eisenmetabolismus“ angefertigt und ganz nebenbei die Beer Hour ins Leben gerufen. Heute lebt Dr. Tiago Jose da Silva Lopes in Tokyo und arbeitet als Berater für Bioinformatik an der Tokyo Universität.

Wie Tiago nach Tokyo kam

„Das MDC ist mir noch gut in Erinnerung. So lang ist meine Doktorandenzeit dort ja auch noch nicht her“, sagt Tiago gleich zu Beginn des Skype-Interviews. Er sitzt in seinem Büro in Tokyo, bei ihm ist es 4 Uhr nachmittags, hier in Berlin 9 Uhr morgens. Das Zentrum auf dem Campus-Buch sei ein ausgezeichneter Arbeitsort mit vielen sehr guten Wissenschaftlern und hervorragenden Möglichkeiten zum wissenschaftlichen Austausch. „Meine Dissertation habe ich in der Bioinformatik Arbeitsgruppe von Prof. Jens Reich durchgeführt. Als Projekt generierte ich eine in silico-Simulierung des Eisenaustauschs und seiner Regulation auf Basis von experimentellen Daten in Mäusen. Zum Ende meiner Doktorandenzeit konnte ich diese Simulierung im Journal BMC Systems Biology veröffentlichen.“

Foto: Tiago Lopes

Tiagos weiterer wissenschaftlicher Werdegang war langfristig geplant. So hat er bereits ein Jahr vor Ende seiner Doktorandenzeit Gespräche über seine Zukunft mit erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geführt. Sie rieten ihm, als PostDoc ins Ausland zu gehen. „Ich habe mich dann im Internet nach thematisch passenden systembiologischen Forschungsgruppen umgesehen. So fand ich die Ausschreibung an der Tokyo Universität von Professor Hiroaki Kitano, einem sehr bekannten Systembiologen. Ich kannte Hiroaki Kitano bereits von einer Konferenz und wollte gern mit ihm zusammenarbeiten.“ Tiago bewarb sich und wurde zu einem Skype-Interview einladen. Alles verlief sehr positiv und Tiago wurde gebeten, sich Tokyo und die Universität erst einmal persönlich anzusehen, bevor er die Stelle annahm. „Meine ersten Stunden in Tokyo waren fantastisch. Ich war beeindruckt von den extrem höflichen Menschen, ihrer akkuraten Art und dem super köstlichen Essen, besonders dem Sushi. Ich wusste sofort, hier will ich eine Weile leben.“

Von 2010 bis Anfang 2014 hat Tiago als Systembiologe und Bioinformatiker in der Arbeitsgruppe von Hiroaki Kitano an der Universität von Tokyo gearbeitet. Seine Forschung war dem ERATO KAWAOKA Projekt für infektionsinduzierte Wirtantwort angegliedert und von der Japanese Science and Technology Agency (JST) finanziert. Danach trat er seine aktuelle Position als Berater für Bioinformatik an. „Diese Stelle ist eigentlich vom Influenza Research Institute (IRI) der Universität von Wisconsin, USA, finanziert und dort residiert auch mein derzeitiger Chef. Über bestehende Kooperationen arbeite ich allerdings weiterhin in Tokyo, worüber ich sehr froh bin“.

Systembiologische Forschung an Influenza-Viren

Tiagos gegenwärtige Forschung beschäftigt sich mit der systembiologischen Analyse und Aufklärung der Antwortmechanismen des Wirts auf Infektionen mit Influenzaviren. Mittels Statistik und Informatik versuchen seine Kollegen und er, diese Mechanismen zum einen für einzelne Virusstämme zu identifizieren. Sie wollen aber auch Muster, die auf mehrere Virusstämme zutreffen, erkennen. Neben frei verfügbaren Datenbanken und eigenen Daten nutzen sie hierfür Daten von Wissenschaftlern der ganzen Welt. „Hauptsächlich handelt es sich dabei um DNA-Sequenzierungsdaten und Proteindaten aus Massenspektrometrie und Proteinsequenzierungen. Diese Daten integrieren wir dann mit epidemiologischen Erhebungen von Überwachungsbehörden, wie zum Beispiel Daten über Ausbreitung und Mutationen der einzelnen Virusstämme“.

Das Projekt hat eine Grundlagenforschungsseite und eine Anwendungsseite. „Wir hoffen zum einen, mehr über die grundlegende Virusbiologie zu erfahren, und zum anderen, Gene und Proteine, die Ziele für medikamentöse Interventionen sein können, zu identifizieren“, sagt Tiago. Bei Letzterem gehe es hauptsächlich um die Entdeckung von Stoffen, die die Virusproliferation inhibieren können. Tiago weiter: „Im Idealfall könnte ein universales Vakzin gefunden werden, welches an einer in vielen Virusstämmen vorkommenden Region angreift.“

Die Geburt der Beer Hour

Tiago und Matt bei Tiagos letzter Beer Hour, 2010

Zu seinen MDC-Zeiten war Tiago neben der Wissenschaft auch stark in das soziale Geschehen auf dem Campus involviert. Zusammen mit Matt Huska, der zu diesem Zeitpunkt bioinformatischer Assistent in der Arbeitsgruppe von Miguel Andrade war, entstand die Idee zur Beer Hour. Tiago kannte etwas Ähnliches bereits vom EMBL in Heidelberg, wo er einen Forschungsaufenthalt als Student absolviert hatte. „Dort fand in der Gene Expression Unit regelmäßig um vier Uhr nachmittags eine ‚Beer Session’ zum Zusammenkommen und wissenschaftlichen Austausch statt. Diese Treffen waren immer recht kurz und danach ging man wieder zurück an die Arbeit.“ Matt und Tiago entwickelten die Idee auf dieser Grundlage weiter, und Ende 2008 fand dann die erste Beer Hour des MDC statt. An den ersten Terminen brachten Tiago und Matt die Getränke noch mit dem Bus vom nahegelegenen Supermarkt zum Campus. „Das fanden die Busfahrer nicht so lustig“ erzählt Tiago. „Wir wurden oft recht skeptisch beobachtet.“ Später haben sie dann via All-User-Mail Volontäre mit Auto zum Getränketransport gesucht. „Als Druckmittel benutzten wir, dass die Beer Hour ansonsten ausfallen würde. Das hat immer gut geklappt und uns die Arbeit immens erleichtert. Mittlerweile ist die Organisation ja stark professionalisiert, wie ich gehört habe. Das freut mich, vor allem, dass es die Beer Hour überhaupt noch gibt.“

Kontakte knüpfen und Austauschen auf Japanisch

Kontakte knüpfen und wissenschaftlicher Austausch findet an der Tokyo Universität anders statt, wie Tiago erzählt. Es werde recht wenig während der eigentlichen Arbeitszeit geredet, und Kaffeepausen gebe es so gut wie nie. „Der japanische Arbeitsstil ist sehr fokussiert und konzentriert. Deswegen findet fast der gesamte zwischenmenschliche Austausch nach der Arbeit statt. Hier ist es üblich, abends mit den Kollegen in eine Bar oder ein Restaurant zu gehen. Dort wird dann gegessen und getrunken. Konsumieren von alkoholischen Getränken ohne gleichzeitiges Essen gibt es hier eher nicht.“ Der „Nationalsport“ Karaoke werde ebenfalls oft zum Austausch und Kontakteknüpfen genutzt. „Karaoke findet allerdings meistens ohne die Chefs statt“, fügt Tiago mit einem Lächeln hinzu. „Während der Fußballweltmeisterschaft haben wir dann auch sehr oft Fußball zusammen gesehen, da waren die Chefs mit dabei.“

Seine Zukunft sieht Tiago als „offen“. Aktuell kann er sich unter anderem vorstellen, nach Wisconsin an das Influenza Research Institute (IRI) zu wechseln. Auch eine Rückkehr an das MDC wäre eine ausgezeichnete Option. „Naja, ich glaube allerdings für den Moment bleibe ich einfach noch eine Weile in Tokyo. Meine Liebe für Kampfkunst und meine Sushi-Sucht halten mich einfach noch hier.“


Beitragsbild: Tiago Lopes in Japan. Foto: Tiago Lopes