Ernährung beeinflusst den Verlauf von Multipler Sklerose
Die Bakterien des Darms funktionieren wie ein unbekanntes Organ: Über ihre Stoffwechselprodukte beeinflussen sie Immunsystem und Gehirn. Die kurzkettige Fettsäure Propionsäure zum Beispiel verändert die Darm-vermittelte Immunregulation bei Menschen mit Multipler Sklerose (MS). Das hat ein Team der Neurologischen Klinik der Ruhr-Universität Bochum (RUB) im St. Josef-Hospital in einer internationalen Studie unter Leitung von Professor Aiden Haghikia gezeigt. Patient*innen, die zusätzlich zu MS-Medikamenten auch Propionsäure erhielten, erlitten langfristig weniger Schübe und das Risiko einer Behinderungszunahme wurde kleiner. Zudem weisen erste Kernspin-Untersuchungen darauf hin, dass die Propionsäure möglicherweise den Gehirnschwund als Zeichen eines Nervenzell-Untergangs reduziert. Kürzlich veröffentlichte das Team die Ergebnisse in der Fachzeitschrift Cell. Auch Forschende des Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und des Experimental and Clinical Research Centre (ECRC), waren daran beteiligt.
Nicht nur MS, sondern auch viele andere Erkrankungen beeinflussen die bakterielle Besiedlung des Darms.
Ein eigenständiges Organ im Darm
„Nicht nur MS, sondern auch viele andere Erkrankungen beeinflussen die bakterielle Besiedlung des Darms“, sagt Dr. Sofia Forslund, Leiterin der Arbeitsgruppe „Wirt-Mikrobiom Faktoren in Herz-Kreislauferkrankungen“ am ECRC. Zusammen mit ihrem Team untersucht Forslund, wie sich das Darmmikrobiom bei Gesundheit und Krankheit entwickelt. Im Darm interagieren Bakterien, Nahrung, Stoffwechselprodukte und das Immunsystem miteinander. „So können die Darmbakterien direkt und indirekt Einfluss auf anatomisch entfernte Strukturen wie das Gehirn nehmen“, erklärt Aiden Haghikia. „Das Darm-Mikrobiom entspricht damit einem eigenständigen endokrinen Organ, das mit der Umwelt in Verbindung steht.“
Kurzkettige Fettsäuren können Entzündungsreaktionen unterdrücken
In der aktuellen Studie konnten die Wissenschaftler*innen die vormals in der Zellkultur und im experimentellen Modell gezeigten Ergebnisse auf die MS-Erkrankten übertragen: Kurzkettige Fettsäuren wie die Propionsäure oder deren Salz Propionat führten zu mehr regulatorischen Zellen des Immunsystems und zu einer gesteigerten Funktionalität. „Diese Zellen beenden überschießende Entzündungsreaktionen und reduzieren im Kontext von Autoimmun-Erkrankungen wie der MS auto-immune Zellen“, sagt Professor Ralf Gold, Direktor der Neurologie im St. Josef Hospital.
Am MDC, ECRC und an der Universität Halle-Wittenberg konnten die Forscherinnen und Forscher nachweisen, dass die Mikrobiom-Zusammensetzung bei MS-Betroffenen verändert ist. „Wir hatten schon im Rahmen einer früheren Zusammenarbeit mit Aiden Haghikia die Analytik von kurzen Fettsäuren am Berlin Institut for Medical Systems Biology des MDC etabliert. Damals aus reiner Neugier“, sagt Dr. Stefan Kempa, Leiter der Metabolomics Plattform am MDC. In der aktuellen Studie zeigen die Forschenden nun, dass MS-Patient*innen einen Mangel von Propionsäure im Stuhl aufweisen, der in der frühesten Phase der Erkrankung am stärksten ausgeprägt war.
Beteiligung der Darm-Bakterien und der Kraftwerke der Zellen ausschlaggebend
In einer Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Bar-Ilan University in Israel, die ein Darm-Modell zur funktionellen Analyse des Mikrobioms entwickelt hatten, zeigte sich, dass die Veränderung der Funktion der Bakterien im Darm als Folge der Propionat-Gabe die
entscheidende Rolle bei der Entstehung von neuen regulatorischen Zellen spielt. Zur gesteigerten Funktion dieser Zellen trägt deren verbesserte Energieverwertung durch eine veränderte Funktion der Mitochondrien bei, was das Forschungsteam in Kooperation mit der Arbeitsgruppe Molekulare Zellbiologie an der Medizinischen Fakultät der RUB nachweisen konnte.
Der Darm als Ziel für therapeutische Ansätze in Zukunft
Die kurzkettigen Fettsäuren stellen nur einen Bruchteil der Stoffwechselprodukte von Darmbakterien dar, die durch die bakterielle Einwirkung aus der Nahrung entstehen. „Die weitere Erforschung dieses weitestgehend unbekannten Organs und die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden es erlauben, in Zukunft weitere innovative diätetische Maßnahmen zu den bekannten Therapeutika zu entwickeln“, sagt Haghikia.
Text: Meike Drießen
Die Originalversion dieses Textes wurde am 10. März 2020 von der RUB veröffentlicht.
Weiterführende Informationen
Literatur
Alexander Duscha et al. (2020): “Propionic acid shapes multiple sclerosis disease course by immunomodulatory mechanism”, Cell, 2020, DOI: 10.1016/j.cell.2020.02.035
Kontakte
Dr. Stefan Kempa
Leiter der Proteomics und Metabolomics Platform
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
stefan.kempa@mdc-berlin.de
Dr. Sofia Forslund
Experimental and Clinical Research Center
Arbeitsgruppenleiterin „Wirt-Mikrobiom Faktoren in Herz-Kreislauferkrankungen“
Sofia.Forslund@mdc-berlin.de
Professor Dominik N. Müller
Experimental and Clinical Research Center
Co-Arbeitsgruppenleiter “Hypertonie-vermittelter Endorganschäden”
+49 30 450540286
dominik.mueller@mdc-berlin.de