SPF-Haltung von Labortieren

EU-Tierschutzrichtlinie nicht zeitgemäß ausgelegt

Tiere, die in der Forschung gebraucht werden, verdienen besonderen Schutz. Das ist Konsens. Berliner Wissenschaftler*innen und Tierschutzbeauftragte plädieren nun im Fachblatt „Animals“ dafür, die Arbeitsanweisung für die EU-Richtlinie 2010/63/EU zu überarbeiten. Sie helfe Tieren nicht und behindere die Forschung.

Der Immunologe Dr. Thomas Kammertöns sucht am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und an der Charité – Universitätsmedizin Berlin unter anderem nach neuen Immuntherapien gegen Krebs. Um die Mechanismen des Immunsystems zu verstehen, arbeitet er mit Tiermodellen, beispielsweise mit Mäusen. Zwar gibt es für viele Fragestellungen in der Biomedizin Alternativen zu Tierversuchen: Computermodelle, Organs-on-a-chip, Organoide. Doch kaum ein System im Körper ist so komplex wie die Immunabwehr. Ein Netzwerk aus Immunzellen umspannt über Blut und Lymphe alle Organe. Es steht mit sämtlichen Körperzellen im Austausch, überwacht sie und greift ein, wenn Eindringlinge sie bedrohen.

Auch SARS-CoV-2-Impfstoffe gäbe es heute nicht ohne jahrzehntelange Grundlagenforschung an den mRNA-Impfstoffen, zu denen Versuche an Mäusen gehören, deren Immunsystem genetisch verändert wurde.
Dr. Thomas Kammertöns
Dr. Thomas Kammertöns Krebsimmunologe und Erstautor des Artikels

„Wir sind auf Tierversuche angewiesen, wenn wir diese Vielfalt durchdringen wollen“, sagt Thomas Kammertöns. „Nur so können wir Therapien gegen Krebs entwickeln, Autoimmunkrankheiten und Virusinfektionen erforschen. Auch SARS-CoV-2-Impfstoffe gäbe es heute nicht ohne jahrzehntelange Grundlagenforschung an den mRNA-Impfstoffen, zu denen Versuche an Mäusen gehören, deren Immunsystem genetisch verändert wurde.“

Um die Haltung der immunveränderten Tiere wird seit Jahren debattiert. Ausgangspunkt ist die 2010 verabschiedete EU-Richtlinie zum Schutz von Tieren, die für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden (2010/63/EU). Diese Richtlinie gibt vor, dass Wissenschaftler*innen die Zucht genetisch veränderter Tiere bei der Genehmigungsbehörde beantragen müssen, wenn die Tiere infolge der genetischen Veränderung belastet werden, sprich Schmerzen, Leiden, Ängste oder Schäden erfahren können. 2013 stufte eine Arbeitsgruppe der EU in ihrer Arbeitsanweisung (“Working document on Genetically Altered Animals“) zur Umsetzung der Richtlinie bereits das Risiko dafür als Belastung der Tiere und damit als genehmigungspflichtig ein. Parallel dazu bescheinigten sie allen immunveränderten Tieren pauschal ein erhöhtes Infektionsrisiko.

Unnötige Belastungen vermeiden

 

In der Forschung besteht Konsens darüber, Tierversuche auf ein unerlässliches Maß zu beschränken, dabei die Belastungen für die Tiere zu reduzieren und die Haltung der Tiere zu verbessern. Die Richtschur dafür gibt das „3R-Prinzip“ vor, das der Zoologe William Russell und der Mikrobiologe Rex Burch 1959 in ihrem Buch „The Principles of Humane Experimental Technique” beschrieben haben. Die „3R“ stehen für: Replace (Vermeiden), Reduce (Verringern) und Refine (Verbessern). Die zuständige Behörde genehmigt einen Tierversuch nur dann, wenn Wissenschaftler*innen, Tierhaltungen und Institutionen das 3R-Prinzip umsetzen. Das bedeutet: Wenn es eine alternative Methode gibt, um eine wissenschaftliche Fragestellung zu beantworten, darf ein Tierversuch nicht stattfinden (Replace). Findet er statt, dürfen Forscher*innen nur die unerlässliche Anzahl an Tieren einsetzen (Reduce), und sie müssen die Versuche müssen so wenig belastend wie möglich gestalten (Refine).

Mehr dazu: 3R-Prinzip und Tierschutz

Bürokratie hilft weder der Forschung noch den Tieren

Seither müssen Wissenschaftler*innen, die immunveränderte bzw. immundefiziente Tiere für ihre Experimente benötigen, nicht nur ihre Versuche beantragen. Auch für Zucht und Haltung der Tiere müssen sie einen Antrag schreiben. „Doch aus immunologischer Sicht ist die Grundannahme, die Tiere seien von vornherein belastet, nicht haltbar“, sagt Kammertöns.

In „Animals“ plädieren er und seine Co-Autorinnen dafür, immundefiziente Tiere nicht per se als „belastet“ zu deklarieren, sondern stets im Einzelfall zu prüfen, ob dies tatsächlich so ist. In ihrer Argumentation berücksichtigen sie neben immunologischen auch ethische, rechtliche und versuchstierkundliche Aspekte. Außerdem fließt in den Artikel die Perspektive von Tierschutzbeauftragten ein, die „Anwälte“ der Tiere sind. Kammertöns‘ Co-Autorinnen sind die Tierärztin und Tierschutzbeauftragte des MDC Dr. Sarah Jeuthe; die Ethikerin Dr. Heike Baranzke, die an der Bergischen Universität Wuppertal Moraltheologie lehrt; Antonina Klippert, Tierschutzbeauftragte der Nuvisan Innovation Campus Berlin GmbH, einem Institut für Auftragsforschung; und Professorin Christa Thöne-Reineke, Fachtierärztin für Versuchstierkunde und Physiologie, Tierschutzbeauftragte der Freien Universität (FU) Berlin sowie Leiterin des Instituts für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde der FU Berlin.

In "Plos One" berichten Berliner Wissenschaftler*innen, dass immundefiziente Mäuse unter SPF-Haltungsbedingungen das gleiche Verhalten an den Tag legen wie gesunde Tiere.

Als Beleg für das erhöhte Infektionsrisiko – und damit für die vermeintliche Belastung, die es zu vermeiden gilt – führen die Verfasser des „Working Document on Genetically Altered Animals“ die spezifisch Pathogen-freien (SPF) Bedingungen ins Feld, unter denen die immundefizienten Tiere gehalten werden. „Eine SPF-Haltung ist jedoch nicht in erster Linie ein Schutz vor Belastung, sondern eine „conditio sine qua non“ für die Forschung“, sagt Thomas Kammertöns. In den vergangenen Jahren hat der Immunologe das Wohlbefinden der immundefizienten Tiere in ihrer keimarmen Umgebung immer wieder untersucht. 2020 erschien im Fachblatt „Plos One“ eine Studie, für die er zusammen mit Erstautorin Sarah Jeuthe sowie Kolleg*innen der FU und der Charité neun Monate lang Verhalten und Physiologie von 90 Labormäusen untersucht hat. Dabei schnitten die immundefizienten Mäuse nicht anders ab als die gesunden Mäuse in der Kontrollgruppe.

Immundefekt belastet Mäuse nicht

 

Immundefiziente und gesunde Mäuse verhalten sich in einer keimarmen Umgebung völlig gleich, berichten die Wissenschaftler*innen in „Plos One“: Sie bringen das gleiche Gewicht auf die Waage, in ihrem Fell lagert sich die gleiche Menge des Stresshormons Kortisol ab, und auch beim Nestbau und Buddeln legen sie das gleiche Verhalten an den Tag. „Eine Maus, die sich wohl fühlt, baut ein komplexes Nest und strukturiert den Käfig, sie macht es sich gemütlich“, erläutert Christa Thöne-Reineke von der FU. „Eine Maus, der es nicht gut geht, verhält sich anders und räumt nicht mehr auf.“ Lediglich bei der Beobachtung der Mimik nach dem internationalen Standard der „Mouse Grimace Scale“ zeigten einige wenige Mäuse leichte Anzeichen von Unwohlsein. Allerdings reicht schon die Anwesenheit von Menschen, dass einige Tiere die Augen zusammenkneifen oder ihre Tasthaare anlegen. Das Team von Christa Thöne-Reineke hat das Verhaltensprotokoll, an dem sich Kammertöns‘ Team für die Studie orientiert hat, an der Berlin-Brandenburger Forschungsplattform BB3R entwickelt. Die Plattform will – ähnlich wie das 3R-Zentrum der Charité – die Etablierung alternativer und tierschonender Methoden für die biomedizinische Forschung unterstützen.

Mehr dazu: Immundefekt belastet Mäuse nicht

Keimarme Umgebung ist „gute wissenschaftliche Praxis“

Außerdem sind Zucht und Haltung unter SPF-Bedingungen nichts, was immundefizienten Tieren vorbehalten ist. Die Federation of Laboratory Animal Science Association (FELASA) gibt diese Bedingungen als „gute wissenschaftliche Praxis“ für alle Versuchstiere vor, ungeachtet dessen, ob Forscher*innen ihr Immunsystem genetisch verändert haben oder nicht. In modernen Tierhäusern gelten strengste Hygienevorschriften. Beispielsweise hat jeder einzelne Käfig eine eigene Lüftungsanlage, damit sich die Tiere nicht untereinander anstecken können; Tierpfleger*innen und Wissenschaftler*innen, die mit den Tieren in Kontakt kommen, bereiten sich darauf vor wie Chirurg*innen auf eine Operation. So sollen die Tiere vor nicht versuchsbedingten Krankheiten geschützt werden – zu ihrem eigenen Wohl, aber auch, um vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, die nicht von anderen Krankheitserregern verfälscht worden sind.

Wir wollen den Tierschutz maximal verbessern. Doch bürokratische Formalismen, die die Wissenschaftler*innen verunsichern und den Tieren nichts bringen, müssen wir hinterfragen.
Prof. Christa Thöne-Reineke
Professorin Christa Thöne-Reineke Leiterin des Instituts für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde sowie Tierschutzbeauftragte der FU Berlin

Schon deshalb sei das höhere Infektionsrisiko widerlegt, das das EU-Expertengremium für immundefiziente Tiere befürchtet, findet Kammertöns. „Erstens ist es extrem unwahrscheinlich, dass die Tiere unter modernen Haltungsbedingungen mit Pathogenen in Kontakt kommen – Haltungsbedingungen wohlgemerkt, die für alle Labortiere gelten“, erklärt der Wissenschaftler. „Zweitens ist ein Eingriff in das Immunsystem nicht gleichbedeutend mit einer höheren Anfälligkeit für jedweden Keim.“ Manchmal ist sogar das Gegenteil der Fall: Werden etwa Labormäuse mit unverändertem Immunsystem mit Leishmanien infiziert – Parasiten, die Mücken auf Wirbeltiere übertragen –, gehen sie daran zugrunde. Immundefiziente Mäuse hingegen, bei denen ein bestimmter Rezeptor ausgeschaltet wurde, verkraften die Infektion. „Über die Immunantwort entscheiden immer der genetische Hintergrund eines Tieres in Kombination mit dem Erregertyp“, unterstreicht Kammertöns. „Aus der Tatsache allein, dass das Immunsystem modifiziert wurde, folgt nicht automatisch ein höheres Infektionsrisiko. Kein Infektionsrisiko – keine Belastung. Keine Belastung – keine Genehmigungspflicht. Eigentlich.“  

Formalismen hinterfragen

Mit seinen Co-Autor*innen plädiert Thomas Kammertöns eindringlich, sich von der pauschalen Belastungsdefinition und der Genehmigungspflicht für immundefiziente Tiere zu verabschieden. „Wir wollen keine Abstriche am Wohlergehen der Versuchstiere machen“, unterstreicht Christa Thöne-Reineke. „Wir wollen den Tierschutz maximal verbessern. Doch bürokratische Formalismen, die die Wissenschaftler*innen verunsichern und den Tieren nichts bringen, müssen wir hinterfragen.“ Zielführend seien individuelle Belastungsabschätzungen für immundefiziente Mauslinien. Zudem sollte die EU-Kommission ihre Beurteilung der SPF-Haltung überdenken und dabei ins Kalkül nehmen, dass diese kein „Refinement“ – also eine Maßnahme, um Belastungen der Tiere so gering wie möglich zu halten –, sondern heutiger Standard für die Versuchstierhaltung ist.

Text: Jana Ehrhardt-Joswig

 

Weitere Informationen

 

Literatur

Kammertöns, Thomas et al. (2021): „Breeding and Maintenance of Immunodeficient Mouse Lines under SPF Conditions — A Call for Individualized Severity Analyses and Approval Procedures“. Animals, DOI: 10.3390/ani11061789

Jeuthe, Sarah et al. (2020): „Stress hormones or general well-being are not altered in immune-deficient mice lacking either T- and B- lymphocytes or Interferon gamma signaling if kept under specific pathogen free housing conditions“. PLOS ONE, DOI: 10.1371/journal.pone.0239231