Forschung an seltenem Bluthochdruck: neue Einblicke in die Ursachen einer globale Epidemie
Eine winzige Veränderung eines einzelnen Gens hat erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Menschen in einem kleinen Dorf in der Türkei. Dort vererben Eltern manchmal das seltene Bilginturan-Syndrom an ihre Kinder. Äußerlich fallen vor allem die kurzen Finger auf. Damit ließe es sich gut leben. Unsichtbar jedoch steigt der Blutdruck. Bleiben die Betroffenen unbehandelt, erleiden sie häufig einen Gehirnschlag, noch bevor sie Fünfzig werden.
Eine mehr als zwanzigjährige Forschungs-Saga
Die Wissenschaftler Okan Toka von der Universität Erlangen und Jens Tank von der Medizinischen Hochschule Hannover erforschen das Syndrom gemeinsam mit der Forschungsgruppe um Friedrich Luft am Berliner Experimental and Clinical Research Center, einer Kooperation des Max-Delbrück-Centrums (MDC) und der Charité. In einer über zwanzig Jahre andauernden Forschungsleistung hat die Gruppe die Erkrankung auf die Mutation des Gens für Phosphodiesterase 3A (PDE3A) zurückgeführt und seinen Mechanismus in den Grundzügen erklärt. PDE3A ist ein Enzym, das den Blutdruck reguliert und auch das Knochenwachstum beeinflusst. Deshalb treten die Blutdruckprobleme zusammen mit verkürzten Fingern auf. Die seltenen Mutationen in dem Gen wurden auch in weiteren Familien in Kanada, den USA, Frankreich und Südafrika gefunden. Ein ganzes populärwissenschaftliches Buch und eine Reportage im Magazin Stern befassen sich mit den Hintergründen dieser Forschungs-Saga.
Ungewöhnlich: Mutation schädigt nicht die Organe
In den meisten Fällen wird Bluthochdruck nicht durch eine Mutation ausgelöst, sondern ist unserer Lebensweise geschuldet. Häufig leiden die Bluthochdruck-Patienten unter vergrößertem Herzmuskel, Veränderungen der Netzhautgefäße oder geschädigten Nieren. Studien in den letzten Jahren zeigten allerdings, dass die PDE3A-Mutation kaum Schädigungen an den genannten Organen hervorruft. Ergänzend überprüften die Wissenschaftler in der aktuellen Arbeit die Herz- und Blutgefäßfunktion und ihr Zusammenspiel (ventrikuloarterielle Kopplung) sowie die für die Blutgerinnung zuständigen Blutplättchen, da diese besonders viel Enzym PDE3A enthalten. Tatsächlich fanden sie keine Unterschiede zwischen den vier Personen mit Bilginturan-Syndrom und den vier Kandidaten der Kontrollgruppe. Mutationen des PDE3A-Gens werden jedoch mit Bluthochdruck in Verbindung gebracht, weshalb Erkenntnisse aus diesem speziellen Typ möglicherweise auch unser Verständnis von häufigeren Blutdruckerkrankungen verbessern, und sogar zu verbesserten Therapien führen könnte.
Wieso die PDE3A-Mutation schädlich ist
Das mutierte PDE3A-Enzym ist etwas aktiver, als seine ursprüngliche Form. Es wandelt daher sein Substrat, den Botenstoff „zyklisches Adenosinmonophosphat“ (cAMP), etwas schneller um. Mit einem mutierten Gen sinkt also der cAMP-Spiegel in der Zelle stärker als gewöhnlich. Wahrscheinlich bewirkt der niedrige cAMP-Spiegel, dass sich die äußere, glatte Muskulatur entlang der Blutgefäße zusammenzieht. Dadurch verengen sich die Blutgefäße und der Blutdruck steigt. Gleichzeitig wachsen die Muskelzellen unter dem Einfluss des Enzyms PDE3A etwas schneller, wodurch die Gefäßwände über die Jahre immer dicker werden. Beides führt dazu, dass der tatsächliche Blutdruck vom Körper nicht mehr erkannt und reguliert wird. Mit den Jahren steigt so der Druck, bis im Gehirn eine Ader nachgibt. Die Folge ist ein Schlaganfall.
Neue Wege, um Bluthochdruck entgegenzuwirken
Gelänge es also, die Aktivität des Enzyms PDE3A zu verringern und damit den Abfall des cAMP-Spiegels zu verhindern, könnte dies zu neuen Therapien führen. Das mit cAMP verwandte Molekül „zyklisches Guanosinmonophosphat“ (cGMP) sorgt indirekt für die Entspannung der Blutgefäße, indem es die Aktivität des Enzyms PDE3A drosselt und so den Abbau von cAMP hemmt. Dies zeigten die Forscher in Zellkulturversuchen.
Leider kann cGMP nicht direkt als Medikament verwendet werden, weil es im Körper vielfältige Aufgaben besitzt. Blutdruck-Medikamente wie Milrinon oder Cilostazol hemmen PDE3A, haben aber starke Nebenwirkungen. Sie sind für einen Einsatz über lange Zeit nicht geeignet und damit keine Therapieoption für Bilginturan-Patienten.
Besser wäre es, gezielt und direkt cGMP-bildende Enzyme, wie die lösliche Guanylatzyklase, anzuregen. So könnte man den Abbau von cAMP indirekt vermindern und im besten Fall der Gefäßverengung und damit dem Bluthochdruck entgegenwirken.
Guanylatzyklase-stimulierende Substanzen existieren bereits und befinden sich noch in klinischen Tests. Bis daraus Medikamente entwickelt werden, wird noch einige Zeit vergehen. Nun gibt es die Hoffnung, dass die Erkenntnisse aus der Untersuchung der Betroffenen aus dem kleinen türkischen Dorf zu neuen Therapieoptionen für Bluthochdruck führt.
Okan Toka, Jens Tank, Carolin Schächterle, Atakan Aydin, Philipp G. Maass, Saban Elitok, Eireen Bartels-Klein, Irene Hollfinger, Carsten Lindschau, Knut Mai, Michael Boschmann, Gabriele Rahn, Matthew A. Movsesian, Thomas Müller, Andrea Doescher, Simone Gnoth, Astrid Mühl, Hakan R. Toka, Yvette Wefeld-Neuenfeld, Wolfgang Utz, Agnieszka Töpper, Jens Jordan, Jeanette Schulz-Menger, Enno Klussmann, Sylvia Bähring, Friedrich C. Luft (2015). „Clinical Effects of Phosphodiesterase 3A Mutations in Inherited Hypertension With Brachydactyly.“ Hypertension 66, 800-808. doi:10.1161/HYPERTENSIONAHA.115.06000