Jongleur der Zahlen
Diese Zeitraffer-Aufnahmen von Froscheiern kann Dr. Jakob Metzger sich immer wieder anschauen. Sie zeigen ein perfektes Programm für Embryonen. Eine Art Code, der präzise umgesetzt wird – bis innerhalb weniger Tage überlebensfähige Kaulquappen entstanden sind. Menschliche Embryonen entwickeln sich in der Gebärmutter ähnlich planmäßig; ab der dritten Woche beginnen sie damit, Nervensystem und Gehirn auszubilden. „Das ist alles exakt getaktet nach Gesetzen, die im Innern der Zellen festgeschrieben sind“, sagt Jakob Metzger. „Diese unglaubliche Komplexität der embryonalen Entwicklung ist unser Vorbild. Wir versuchen sie nachzubauen, aber die Natur hat da ein paar Milliarden Jahre Vorsprung.“
Jakob Metzger ist Physiker und Entwicklungsbiologe. Er stellt im Labor Hirnorganoide her, das sind dreidimensionale Gewebe, die in der Petrischale heranwachsen und aus verschiedenen Zelltypen des Gehirns bestehen. Bis zu einem gewissen Grad können sie Hirnregionen und deren Funktionen nachbilden. Metzgers Ziel: Mit Hilfe der Organoide die gesunde Entwicklung des menschlichen Gehirns verstehen und die Auswirkungen von Fehlentwicklungen und neurodegenerativen Krankheiten erkennen, um neue Therapien zu entwickeln.
Durch die Brille des Physikers
Am Max Delbrück Center leitet Jakob Metzger die Arbeitsgruppe „Quantitative Stammzellbiologie“. Stammzellbiologie, weil die Organoide auf der Basis von Stammzellen entstehen, quantitativ, weil Metzger durch die Brille des Physikers auf die Entwicklungsbiologie schaut. „Ich betrachte das Ganze als komplexes System, das sich in Zahlen fassen lässt und an das ich mathematische Gleichungen anpassen kann“, sagt er.
Mit neuesten Bildgebungs- und molekularen Omics-Verfahren generiert er große Mengen aussagekräftiger Daten und analysiert diese mit Methoden des maschinellen Lernens. Die neuronalen Netzwerke, die es dafür braucht, programmiert er selbst. Jakob Metzger ist ein Jongleur – er jongliert mit den Disziplinen und Technologien, vor allem aber mit Zahlen. Und mit Bällen, ein Hobby seit seiner Jugend.
Zahlen haben Jakob Metzger schon in seiner Doktorarbeit geleitet. Damals, am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, berechnete er die Ausbreitung von Wellen in zufälligen Medien – eine theoretische Basis für die Vorhersage von Tsunamis. Nach einem Postdoc ebbte sein Interesse an den Fragen der Physik allmählich ab. Nicht aber das für die Zahlen.
Ein Workshop zur Morphogenese im kalifornischen Santa Barbara weckte seine Begeisterung für das Experimentelle. Er arbeitete im Labor, untersuchte Zebrafische. Da die Entwicklungsbiologie in dieser Zeit immer stärker auf große Datenmengen setzte, ging er nach New York an die Rockefeller University zu Professor Eric Siggia, der als Physiker in der Entwicklungsbiologie sehr erfolgreich war. „In der Biologie gibt es viele zufällige Einflüsse, also Stochastik, und sehr viele nicht-lineare Prozesse“, sagt Metzger. „Für mich ist das Spannende, wie biologische Systeme mit all dem Chaos klarkommen und trotzdem so robust sind.“
Seine Organoide sind kleiner als der Standard – aber skalierbar
In der Biologie gibt es viele zufällige Einflüsse, also Stochastik, und sehr viele nicht-lineare Prozesse. Für mich ist das Spannende, wie biologische Systeme mit all dem Chaos klarkommen und trotzdem so robust sind.
Der Sprung in die Biologie war ein Sprung ins kalte Wasser. Es folgten endlose Laborstunden, um sich experimentelle Techniken anzueignen. Fünf Jahre lang entwickelte er Mini-Hirnorganoide, die Neuruloids, die den frühesten Zustand der Hirnentwicklung nachbilden, war an einem Screening von rund 3000 potenziellen Medikamenten für die erbliche Hirnkrankheit Chorea Huntington beteiligt und programmierte Methoden des maschinellen Lernens zur Auswertung der Daten. 2019 beschrieb er als Co-Erstautor in einem Paper in „Nature Biotechnology“ das Potenzial von Hirn-Organoiden für die Erforschung von Chorea Huntington.
Ans Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center (MDC-BIMSB) kam der damals 37-Jährige 2020, weil er hier eine gute Möglichkeit sah, weiter mit Disziplinen, Methoden und Zahlen zu jonglieren. Gemeinsam mit seinen elf Mitarbeitenden aus Biologie, Physik und Informatik entwickelte er die Mini-Hirnorganoide weiter. Sie sind kleiner als der bisherige Standard – messen nur etwa 0,5 Millimeter statt ein bis drei Millimeter – und enthalten weniger Zelltypen des Gehirns. Dafür liefern sie besonders hochwertige Daten, weil sie massenhaft hergestellt werden können und einander sehr ähneln. „Durch ihre Skalier- und Reproduzierbarkeit können wir genaue statistische Aussagen machen, etwa darüber, welche Gene bei einer Krankheit besonders aktiv sind“, sagt Metzger.
Eine der Hirnkrankheiten, denen Metzger mit seinen Hirn-Nachbauten auf den Grund gehen will, ist die sehr seltene und bislang unheilbare neurologische Entwicklungsstörung NEDAMSS. Kinder, die daran erkranken, vergessen durch eine Mutation des Gens IRF2BPL erlernte Fähigkeiten nach und nach wieder. Die Krankheit wurde erst vor wenigen Jahren entdeckt. „Es ist noch unklar, was die gesunde Variante dieses Gens im Gehirn bewirkt und was genau das Problem ist, wenn es mutiert“, sagt Metzger.
Um zu verstehen, in welchen Zellen das defekte Gen IRF2BPL aktiv ist, welche Funktionen es hat und mit welchen anderen Genen es interagiert, nutzt Metzger zunächst Hirnorganoide der Standard-Größe, die mehr Zelltypen enthalten. „Sobald wir wissen, welche Zellen die Krankheit beeinflussen und wie der Phänotyp aussieht, können wir die passenden Mini-Organoide herstellen.“ Es ist ein Zoom-Effekt im Forschungsprozess: Der Blick wird fokussiert, die Detailgenauigkeit erhöht.
Die Signatur der jeweiligen Krankheit
Die Organoide basieren in der Regel auf Blut- oder Hautzellen von Patient*innen. Diese werden zunächst zu induzierten Stammzellen reprogrammiert und können dann Hirnzellen bilden. In einer Nährlösung teilen sie sich immer weiter, differenzieren sich aus und wachsen innerhalb von ein bis vier Monaten zu runden Organoiden heran. Angeregt von Signalstoffe, die sie in der Embryonalentwicklung vom umliegenden Gewebe bekommen würden, versuchen die Zellen, sich selbst zu organisieren. „Das ist weit weg vom echten Gehirn, aber ein funktionierendes System mit vernetzten Neuronen – und sehr nützlich für die Modellierung von Krankheiten“, sagt Metzger.
Um krank von gesund zu unterscheiden, nutzt Metzgers Team für die Organoide Zelllinien, die zwar das gleiche Genom haben, sich in relevanten Genen jedoch unterscheiden, zum Beispiel in dem für NEDAMSS verantwortlichen IRF2BPL. Mit der Genschere CRISPR/Cas entfernen die Forschenden dafür die krankmachende Mutation aus den Zellen der Patient*innen – oder fügen sie hinzu. „Wenn wir an den kranken Zellen ein Medikament testen, sehen wir in den Daten, ob oder wie sehr sich deren Signatur dem gesunden Phänotyp wieder annähert“, sagt Metzger. Die Signatur kann zum Beispiel eine veränderte Aktivität von Genen oder Proteinen sein.
Damit solche Signaturen sichtbar werden, markiert Metzgers Team zum Beispiel krankmachende Proteine farbig. Deren Häufung und Verortung lässt sich so gut unter dem Mikroskop erkennen. Mit der Einzelzell-RNA-Sequenzierung kann sein Team zudem tausende von Zellen gleichzeitig messen, wie viele RNA-Moleküle sich in ihnen befinden und wie aktiv bestimmte Gene sind. Proteomik-Verfahren wiederum ermöglichen es, alle Proteine in einer Zelle zu messen, um gesunde Proteinmuster von kranken zu unterscheiden. Aus all diesen Daten entsteht nach und nach ein umfassender Fingerabdruck der Krankheit.
„Das maschinelle Lernen ist bestens dafür geeignet, solche Datenberge zu analysieren“, sagt Metzger. „Man kann neuronale Netzwerke darauf trainieren, anhand der verfügbaren Messdaten gesunde Organoide mit kranken zu vergleichen und komplexe Zusammenhänge aufzudecken, die Menschen nicht ohne Weiteres erkennen würden.“ Zum Beispiel, ob ein Protein häufiger neben einem anderen auftaucht, wenn ein drittes vorhanden ist. „Am Ende kann die Künstliche Intelligenz auf Basis aller Daten vorhersagen, welche Medikamente erfolgversprechend sein könnten.“
Die Geheimnisse der Hirnentwicklung
Neben NEDAMSS und Chorea Huntington untersucht Metzgers Team Krankheiten des autistischen Spektrums. Auch für Alzheimer erforschen sie den Zusammenhang mit genetischen Mutationen, die das Erkrankungsrisiko erhöhen können. Da sich die Mini-Organoide massenhaft herstellen lassen, lassen sich an ihnen viele Wirkstoffkandidaten gleichzeitig testen – und optimale Kombinationen und Dosierungen für die personalisierte Medizin.
Doch auch die Grundlagenforschung lässt Jakob Metzger nicht los – die Präzision der Natur und die treibenden Kräfte in der Hirnentwicklung mit Hilfe von Organoiden zu verstehen. Noch seien viele Fragen offen, etwa wie Vorläuferzellen zu der Entscheidung kommen, irgendwann keine Neurone mehr zu bilden, sondern die sie versorgenden Astrozyten. „Und woher sie überhaupt wissen, wann genügend Hirnmasse aufgebaut ist“, sagt Metzger.
Text: Mirco Lomoth