Ein kleines Haus für ein großes Mikroskop
Was die Welt im Innersten zusammenhält – Dr. Christoph Diebolder will’s wissen. Er will die biochemischen Prozesse ergründen, mit denen sich die kleinsten Puzzlesteine des Lebens aneinanderfügen. Sichtbar machen, was passiert, wenn Moleküle im Inneren einer Zelle aufeinandertreffen.
Wir betreiben eine Menge Aufwand, damit unsere Mikroskope glücklich sind.
Der Strukturbiologe leitet seit Februar 2020 die neu errichtete Core Facility für Kryo-Elektronenmikroskopie (Kryo-EM) der Charité – Universitätsmedizin Berlin in Zusammenarbeit mit dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und dem Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) auf dem Campus Buch. Zuvor war er über zehn Jahre lang in den Niederlanden und dort unter anderem als Wissenschaftler am Netherlands Centre for Electron Nanoscopy (NeCEN) tätig. Die Kryo-EM Core Facility läuft seit einem knappen Jahr im Testbetrieb, im März ging sie offiziell in den Regelbetrieb. Mit der Kryo-EM ist es möglich, biologische Moleküle auf Nanometerebene sichtbar zu machen – „in einer Auflösung, die mit der Kristallografie mithält“, schwärmt Diebolder. Am 13. April stellt er die neue Technologie im Rahmen seiner MDC Welcome Lecture vor.
Gegenüber der Röntgen-Kristallografie hat die Kryo-EM einen entscheidenden Vorteil. Auch damit können dreidimensionale Strukturen beispielsweise eines Proteins abgebildet werden, erklärt Professor Oliver Daumke. Er forscht am MDC an Proteinen, die innerhalb der Zelle wichtige Funktionen ausführen, indem sie zelluläre Membranen unter Energieverbrauch verformen. „Die Kristallografie erzeugt jedoch das Bild eines isolierten Proteins. Das Besondere an der Kryo-Elektronenmikroskopie ist, dass wir damit die Proteine nicht nur in Isolation, sondern auch in ihrer zellulären Umgebung anschauen können“, sagt Daumke. „ Und das, ohne sie vorher kristallisieren zu müssen.“
Kryo-Mikroskop liefert Daten höchster Qualität
Herzstück der Technologieplattform ist ein vier Meter hohes Kryo-Transmissionselektronenmikroskop (Kryo-TEM). Wie ein riesiger Tresor steht es in einem hohen weißen Raum, der von einem gleichmäßigen Rauschen erfüllt ist: die Lüftungsanlage. Denn so groß das Gerät ist, so empfindlich ist es. Temperaturschwankungen verträgt es ebenso wenig wie eine zu hohe Luftfeuchtigkeit. Letztere liegt bei unter 20 Prozent und macht Besucher*innen schnell durstig. Auch Vibrationen oder elektromagnetische Felder sind problematisch. Der Boden des Gebäudes besteht deshalb aus einer 1,25 Meter dicken Betonplatte, die Schwingungen ausgleicht. Ansonsten würde der in 100 Meter Entfernung vorbeifahrende Campusbus die Messungen stören. Zudem ist es wie ein „Haus im Haus“ doppelwandig gebaut. „Wir betreiben eine Menge Aufwand, damit unsere Mikroskope glücklich sind“, sagt Diebolder.
Diebolder erinnert sich an den Augenblick vor einem Jahr, als er das Kryo-TEM zum ersten Mal eingeschaltet hat: „Das kann ein Moment großer Enttäuschung sein. Aber in diesem Fall war es ein wunderbarer Moment, weil wir Daten von sehr hoher Qualität erhalten haben.“ Berliner Forschende können die hochmoderne Technik fortan für ihre Projekte nutzen. Das Kryo-EM-Team unterstützt sie dabei. Bereitet die Proben vor, führt die Messungen durch, unterstützt bei der Auswertung und Modellierung der Daten. Neben Diebolder arbeiten Dr. Thiemo Sprink (MDC) und Metaxia Stavroulaki (Charité, finanziert durch das benachbarte Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie) in dem schlichten, würfelförmigen Bau, der mit dunkelbraunem Holz verkleidet ist. Durch einen kleinen Vorraum gelangt man in die Schaltzentrale des Gebäudes. Ein Schreibtisch mit vier Arbeitsplätzen zieht sich längs durch den Raum, jeder davon ist mit mehreren Bildschirmen bestückt. Vor dem Fenster: 2.400 Quadratmeter märkischer Sand, über den demnächst wieder Bagger rollen. In einem Jahr soll dort das Optical Imaging Center (OIC) des MDC stehen.
Schockgefrostete Präparate in ihrer natürlichen Struktur
Die Leidenschaft für die Elektronenmikroskopie hat Diebolder während seines Studiums der Technischen Biologie in Stuttgart gepackt. Das war in den Nullerjahren, die Kryo-EM gab es dort damals noch nicht. Diebolder war trotzdem fasziniert, weil auch ein herkömmliches Elektronenmikroskop den Blick auf einzelne Atome gewährt. Das funktioniert, weil Elektronenstrahlen dank ihrer kürzeren Wellenlänge eine wesentlich höhere Auflösung erreichen als Licht. Allerdings müssen die Proben entwässert, chemisch fixiert und mit Schwermetallen kontrastiert werden. Das, was der Elektronenstrahl sichtbar macht, ist also nicht der natürliche Zustand eines Moleküls, sondern das, was nach dieser Behandlung von ihm übrigbleibt.
Erst dank der Kryo-EM müssen Wissenschaftler*innen nicht länger Artefakte interpretieren, sondern können tatsächlich natürliche Strukturen betrachten. 2017 erhielten der Schweizer Jacques Dubochet, der Deutsch-Amerikaner Joachim Frank und der Schotte Richard Henderson den Chemie-Nobelpreis für die Entwicklung dieser neuen Art der Mikroskopie. Dabei werden Moleküle so schnell abgekühlt, dass sich keine Eiskristalle bilden können. Stattdessen entsteht glasklares Eis, das die Moleküle in ihrer natürlichen Form fest umschließt. Der Elektronenstrahl kann die Eisschicht durchdringen. Eine im unteren Teil des Mikroskops installierte Kamera zeichnet das Abbild auf. Ein Computer errechnet aus mehreren, oft Hunderttausenden Aufnahmen eine exakte dreidimensionale Abbildung des Moleküls – in einer bislang nicht dagewesenen Genauigkeit und hohem Detailreichtum. Die Bilder, die dabei entstehen, offenbaren nicht selten eine ungeahnte Schönheit und Symmetrie, wie sie ein Architekt nicht besser entwerfen könnte.
300 Nanometer sind das Maximum
In welche entlegenen Gefilde die Forschenden mit dem Elektronenstrahl vordringen, zeigt sich auch an dem Gegensatz zwischen der Größe des Mikroskops und der Winzigkeit der Probe, die es durchleuchten kann. Eine Zelle von einem Mikrometer Durchmesser wäre zu dick, nicht mehr als 300 Nanometer dürfen es sein. Um derart feine Proben präparieren zu können, steht den Forschenden in der Facility ein weiteres Gerät der Spitzenklasse zur Verfügung: ein Dual Beam FIB SEM, ein Kryo-Rasterelektronenmikroskop mit fokussiertem Ionenstrahl. Darin wird aus der schockgefrorenen Probe, beispielsweise einer menschlichen Zelle, mit dem Ionenstrahl eine elektronendurchlässige Lamelle herausgefräst. Um genau den Abschnitt zu bekommen, der im Kryo-TEM betrachtet werden soll, kann Metaxia Stavroulaki zuvor mithilfe eines Kryo-KLEM, eines korrelativen Elektronen-Lichtmikroskops, die entsprechenden Moleküle markieren. Die Lamelle, dieser Hauch einer Probe, kommt dann ins Kryo-TEM.
Neben den Dienstleistungen für Forschende und ihre Projekte wollen Diebolder und seine Mitstreiter*innen diesen Workflow – vom Kryo-KLEM über Dual Beam FIB SEM über und Kryo-TEM bis hin zur Datenaufbereitung und Modellberechnung – weiterentwickeln und verfeinern. „Wir wollen mit unserer Arbeit die Strukturbiologie methodisch voranbringen“, beschreibt Diebolder seine Vision. „Unser Ziel ist es, von in vitro zu in situ zu kommen, also Prozesse direkt in der Zelle zu beobachten.“
Das Ribosom als Universum
Parallel dazu arbeitet das Kryo-EM-Team an eigenen Projekten. Thiemo Sprink hat sich einem bakteriellen Ribosom verschrieben. Genauer gesagt: einem der Atome, aus denen ein Ribosom besteht. Es gibt Hunderttausende davon. Er will herausfinden, wofür dieses eine Atom da ist. Seine Suche begann 2015 im Rahmen seiner Doktorarbeit. Aus den Aufnahmen von Hundertausenden Ribosomen hat er ein dreidimensionales Ribosom-Modell errechnet.
Auf dem Computerbildschirm erscheint etwas, das aussieht wie ein grauer Schwamm. Mit einem Klick kann Sprink die Darstellung ändern: Der Schwamm verwandelt sich in ein zerknülltes Gitternetz. Anhand der Dichte der Linien kann Sprink die Bausteine identifizieren, aus denen das Ribosom aufgebaut ist. Die Dichte zeigt auch, wo Moleküle miteinander interagieren oder wie und wohin ein einzelnes Ion die Aminosäureseitenketten lenkt. RNA markiert er grün oder gelb, Proteine blau-rot – es entsteht ein Knäuel aus farbigen, ineinander verschlungenen Bändern. „Vereinfacht könnte man sagen, dort, wo die Farben sich mischen, finden wahrscheinlich Interaktionen zwischen Molekülen statt“, erklärt Sprink. Diese Stellen könnte er sich durch weitere Experimente unter dem Mikroskop genauer anschauen. Er klickt mal hier, mal da, wechselt zwischen den Ansichten hin und her, versinkt im Universum des Ribosoms. Mithilfe einer VR-Brille könnte er ganz eintauchen, das Ribosom durchschreiten, als wäre es ein Labyrinth.
„Das ist wahnsinnig spannend“, sagt Diebolder. „Manchmal wäre ich gern etwas weniger Manager und etwas mehr Wissenschaftler.“ Dennoch: Er hätte sich nichts Besseres vorstellen können, als die Charité-Facility in Betrieb zu nehmen. Auch wenn das OIC des MDC eröffnet wird, wird sein logistisches Geschick gefragt sein: Denn dann ziehen einige Geräte aus seiner Facility um in das neue, genau gegenüberliegende Gebäude. Eine enge Zusammenarbeit mit den MDC-Wissenschaftler*innen ist geplant – unter anderem mit einer neuen Nachwuchsgruppe „In situ-Strukturbiologie“ unter Leitung von Dr. Misha Kudryashev, der im Sommer seine Arbeit aufnimmt.
Text: Jana Ehrhardt-Joswig