woman with a scientific chip

Die Vordenkerin

Wir brauchen mehr Interdisziplinarität, sagt Maike Sander als Wissenschaftliche Vorständin. Dann können wir den drängendsten Gesundheitsproblemen unserer Zeit begegnen. Als Diabetesforscherin widmet sie sich „Organ-on-a-chip“-Technologien, um die menschliche Bauchspeicheldrüse im Labor nachzubilden.

Ein Montagmorgen, Anfang Oktober: Im Kalender von Professorin Maike Sander folgt vom frühen Morgen bis zum späten Abend um 22 Uhr ein Meeting auf das andere. Für die Wissenschaftliche Vorständin und Vorstandsvorsitzende des Max Delbrück Center in Berlin sind Zwölf-Stunden-Tage die Regel. Ende 2022 hat Sander die Leitung des Zentrums angetreten, ab 2025 wird sie auch das Amt der Vizepräsidentin der Helmholtz-Gemeinschaft und die Leitung von Helmholtz Health übernehmen, einem der sechs großen Forschungsfelder von Helmholtz. In ihren vielfältigen Rollen hat Maike Sander viel vor.

An der Spitze des Max Delbrück Center schärft sie das Forschungsprofil des Zentrums, bündelt und beschleunigt eine Restrukturierung um ein gemeinsames Ziel herum: einen ganzheitlichen und präventiven Ansatz, Krankheiten zu behandeln. Vielen Erkrankungen liegen die gleichen Mechanismen zugrunde und meist erfassen sie mehr als ein Gewebe oder ein einzelnes Organ. Diabetes beispielsweise erhöht das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, und Herz-Kreislauf-Erkrankungen schädigen Blutgefäße in allen Organen, nicht nur im Herzen.

Technologiefortschritte und KI-basierte Innovationen werden die Medizin grundlegend verändern und eine Präzisionsprävention ermöglichen.
Maike Sander
Maike Sander Wissenschaftliche Vorständin

Mit den Technologien, die den Forscherinnen und Forschern am Max Delbrück Center zur Verfügung stehen, können sie nicht nur die molekularen Grundlagen von Krankheiten aufdecken. Sie können auch verstehen und beobachten, wie sie sich entwickeln. Dieses Wissen eröffnet Ärztinnen und Ärzten unzählige Möglichkeiten einzugreifen – bevor Gesundheit in Krankheit übergeht. „Technologiefortschritte und KI-basierte Innovationen werden die Medizin grundlegend verändern und eine Präzisionsprävention ermöglichen“, sagt Sander.

Um dieses Ziel zu erreichen, will Sander die biomedizinische Forschung sowohl am Max Delbrück Center als auch bei Helmholtz Health besser aufeinander abstimmen und Synergien nutzen. Sie möchte zielorientiertes Handeln fördern, das mit der Expertise verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen Probleme löst, die in der bestehenden Forschungsinfrastruktur unzureichend adressiert werden können.

„Das Anreizsystem in der Wissenschaft belohnt die Erfolge der Einzelnen, es verhindert geradezu Teamarbeit“, sagt sie. Dabei waren es riesige Konsortien, die gemeinsam das Humangenomprojekt stemmen konnten oder die die genetischen Ursachen vieler Volkskrankheiten entschlüsselt haben. Nun lautet die offene Frage: „Können wir unsere Arbeitsgruppen dazu anhalten, ähnlich kollaborativ an Präzisionsmedizin und Krankheitsprävention zu arbeiten?“

Eine Welt jenseits von Deutschland

Maike Sander ist in Göttingen aufgewachsen. Schon früh kam sie mit unterschiedlichen Kulturen in Berührung, denn ihre Mutter erforscht und übersetzt Sanskrit. Sie lehrte Linguistik an der Universität und arbeitete manchmal mit Anthropolog*innen in Indien und Pakistan zusammen, um uralte Texte zu übersetzen. Die Mutter bereiste beide Länder – mit der kleinen Maike im Schlepptau. Oft waren buddhistische und hinduistische Gelehrte und ihre Familien bei ihnen zu Gast: „Dank des ungewöhnlichen Berufs meiner Mutter war unser Haus immer voller Menschen aus der ganzen Welt.“

Obwohl die Welt der Sprachen sie ständig begleitete, interessierte sich Sander eher für die Naturwissenschaften. Sie schrieb sich an der Universität Heidelberg für Medizin ein und entdeckte die Endokrinologie für sich. Endokrine Erkrankungen verursachen oft unspezifische Symptome, die für andere Krankheiten ebenso typisch sind. Sander fand es spannend, Symptome und Testergebnisse wie Puzzlesteine zusammenzusetzen, um eine Diagnose zu stellen.

„Wenn jemand versucht hätte, aus mir eine Chirurgin zu machen, wäre ich gescheitert“, sagt sie scherzhaft. „Oh, dieser Patient verblutet! Lassen Sie mich erstmal ein Buch lesen und herausfinden, warum das passiert – das wäre meine Reaktion gewesen.“ Die Endokrinologie passe besser zu ihrer Art zu denken, fügt sie hinzu. „Die Ärmel hochkrempeln und einfach reinspringen, so wie es die Ärztinnen und Ärzte in der Notaufnahme tun müssen, das liegt mir nicht. Ich wollte immer vor allem wissen, wie die Dinge funktionieren.“

Nicht immer verlief ihre Karriere reibungslos. Als Frau, die sich in den späten 1980er Jahren für eine akademische Laufbahn interessierte, stieß sie auf Widerstände – die Leitungsebenen in der Medizin waren fast alle von Männern geprägt. Ein Professor nannte ihre Karriereambitionen einmal „niedlich“. Das war sehr von oben herab, fand sie. Doch entmutigen ließ sich Maike Sander von derartigen Kommentaren nicht. Sie ignorierte sie, so gut es ging.

Ein Gefühl von Freiheit und viele offene Türen

1991, drei Jahre vor Abschluss ihres Medizinstudiums, erhielt sie ein Forschungsstipendium an der University of California, San Francisco (UCSF). Reisen und in einem anderen Land forschen, das begeisterte sie.

Vier Monate wollte sie bleiben – es wurden 31 Jahre. San Francisco sprühte in dieser Zeit vor Energie. Der Dotcom-Boom der 1990er Jahre stand unmittelbar bevor, viele junge Freigeister voller Optimismus strömten in die kalifornische Metropole. Die Arbeit im Labor war zwar anspruchsvoll, aber Sander wuchs an den Aufgaben. Nach jedem Erfolg öffnete ihr jemand eine neue Tür, boten sich neue Möglichkeiten. Sander blieb, weil „ich mich noch nie in meinem Leben so frei gefühlt habe“, sagt sie.

Die häufigste endokrine Erkrankung war – und ist – Diabetes. Es gab so viele unbeantwortete Fragen, sagt Sander. Anfang der 1990er Jahre war eine Zeit des Umbruchs in der Biologie, angetrieben durch die nun verfügbaren Technologien zur Analyse des Genoms. Dazu gehörten neue Werkzeuge, mit denen man mithilfe von Mäusen die Funktion von Genen erforschen konnte. Maike Sander setzte ihre Laufbahn als Postdoktorandin an der UCSF fort. Bei Inselzellen – einer Gruppe von endokrinen Zellen in der Bauchspeicheldrüse – untersuchte sie die Gene, die für die Produktion von Insulin und anderen Hormonen verantwortlich sind. Da Sander bereits auf endokrine Erkrankungen spezialisiert war, war der Schwerpunkt Diabetes ein logischer nächster Schritt in ihrer Forschung.

Das ultimative Ziel meiner Forschung ist, neue Medikamente oder neue Interventionspunkte zu finden, um die Funktion der Beta-Zellen zu beeinflussen.
Maike Sander
Maike Sander Wissenschaftliche Vorständin

Wie sich die verschiedenen endokrinen Zelltypen entwickeln und eine Insel bilden, untersuchte sie mehrere Jahre mithilfe von genveränderten Mäusen. Als ihr Verständnis wuchs, verlagerte sich ihr Fokus auf die Genregulation – etwa auf die Proteine, die Zellen grünes Licht zur Produktion von Insulin geben. Im Laufe der Jahrzehnte trug ihre Forschung zu einer Landkarte der Faktoren bei, die Beta-Zellen – einer der vier endokrinen Zelltypen in den Inseln – benötigen, um zu reifen und Insulin herzustellen.

Ein Durchbruch im Jahr 1998 erlaubte es Sander, ihre Forschung auf den Menschen zu übertragen: Der Entwicklungsbiologe James Thompson von der University of Wisconsin-Madison isolierte die ersten humanen embryonalen Stammzellen. Ab Anfang der 2000er Jahre begannen Forschende, damit menschliche Gewebe zu züchten. Diese Modelle nutzten sie für weitere Experimente wie Medikamententests. Sander war an einem Protokoll beteiligt, mit dem es schließlich gelang, humane embryonale Stammzellen in insulinproduzierende Beta-Zellen zu verwandeln.

Nach wie vor liegt der Schwerpunkt ihrer Arbeitsgruppe am Max Delbrück Center auf dem Verständnis grundlegender Mechanismen. Aus Stammzellen entwickelt ihr Team Organoide der Langerhansinseln in der Bauchspeicheldrüse – also Mini-Versionen der Inseln –, um besser zu verstehen, warum insulinproduzierende Zellen bei Typ-2-Diabetes letzten Endes versagen. Noch haben die Organoide kein Immun- und Gefäßsystem, sodass sie die menschliche Bauchspeicheldrüse nicht realistisch nachbilden können. Doch Maike Sander hofft, dass ein weiteres Projekt die Organoide näher an die Wirklichkeit rücken kann: Sie will verschiedene Zelltypen – beispielsweise Zellen der Bauchspeicheldrüse, der Blutgefäße und des Immunsystems – auf Mikrofluidik-Chips kombinieren und diese dazu bringen, dass sie die menschliche Bauchspeicheldrüse genauer simulieren.

„Ein exaktes In-vivo-Modell wäre ein Schritt nach vorn, um Wirkstoffkandidaten zu screenen“, sagt sie. „Das ultimative Ziel meiner Forschung ist, neue Medikamente oder neue Interventionspunkte zu finden, um die Funktion der Beta-Zellen zu beeinflussen.“

Balanceakt zwischen Forschung und Management

Sander übernahm im Jahr 2022 Leitung des Max Delbrück Center. Bis dahin hatte sie ihre eigene Arbeitsgruppe an der University of California in San Diego und war Direktorin des Pediatric Diabetes Research Center. An ihrer neuen Aufgabe reizt sie die Möglichkeit, Wissenschaft auf der Ebene eines interdisziplinären Forschungszentrums zu gestalten. Mit der hohen Qualität der Forschung am Max Delbrück Center war sie bereits vertraut; zwischen 2019 und 2022 war Sander Einstein Visiting Fellow und verbrachte auch Zeit als Humboldt-Forscherin auf dem Campus in Berlin-Buch.

„Ich habe die Exzellenz der Wissenschaft hier vor Ort erlebt. Und ich wollte dabei helfen, dieses Potenzial voll auszuschöpfen“, sagt sie. Das spiegelt sich in der neuen Strategie 2030 des Max Delbrück Center wider. Das Ziel: besser verstehen, wie sich Gesundheit auf molekularer Ebene in Richtung Krankheit bewegt und gemeinsam mit Partnern in Industrie und Klinik neue Therapien entwickeln, um das zu verhindern.

Als die Strategie diskutiert wurde, „kristallisierte sich ebenfalls heraus, welche Chancen Bioengineering-Ansätze für das Max Delbrück Center eröffnen. Denn damit können wir hochmoderne Technologien und Therapien entwickeln, die direkt auf medizinische Probleme anwendbar sind“, sagt sie. Die Helmholtz-Gemeinschaft habe kürzlich eine Bioengineering-Initiative ins Leben gerufen. Sie zielt darauf ab, „das Potenzial zu nutzen und von der Biologie inspirierte Technologien schneller in marktfähige Produkte zu überführen“. Ein weiteres Helmholtz-Programm, das sich noch in der Planungsphase befindet, soll neue Strategien für die Präzisionsmedizin und Präzisionsprävention entwickeln.

Maike Sander ist sich der Herausforderungen bewusst, die ihr bevorstehen. Wie will sie ihre vielfältigen Rollen in Einklang bringen? Sie nickt, lächelt und weist auf ihren vollen Terminkalender hin. Am Max Delbrück Center und in den Arbeitsgruppen in den Helmholtz-Health-Zentren sind Tausende Menschen beschäftigt. Forschungssilos aufzubrechen und neue Kooperationen zu bilden, wird Zeit brauchen. Aber wenn sie eine Sache nennen müsste, die sich während der 31 Jahre in den USA fest bei ihr eingeprägt haben, dann ist es ein optimistisches „Ich schaffe das“, sagt sie: „Ich weiß nicht, ob ich erfolgreich sein werde. Aber ich will es zumindest versuchen.“

Text: Gunjan Sinha

 

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