Nacktmulle: Berührung, Schmerz und seltsame Sinneswelt
Es gibt eine bemerkenswerte Verbindung zwischen meiner Arbeit und diesem seltsamen Tier.
Das Tier grüßt eher unscheinbar. Im Arbeitszimmer von Gary Lewin am Max-Delbrück-Centrum hängt links an der Wand eine kleine Kohlezeichnung: Ein Nacktmull ist zu sehen, mit seinen kleinen Augen und den markanten vorstehenden Zähnen. „Es gibt eine bemerkenswerte Verbindung zwischen meiner Arbeit und diesem seltsamen Tier“, sagt Lewin. Der afrikanische Nacktmull (Heterocephalus glaber) ist weitgehend schmerzunempfindlich. So ist auch Lewin auf das Tier gekommen.
Am Anfang war der Schmerz
Lewin wurde 1965 auf der Isle of Man geboten. Seit 1996 forscht der Neurophysiologe am MDC in Berlin. Eine wichtige Entdeckung hatte er da schon im Gepäck. Als Post-Doc an der Stony Brook Universität in New York (SUNY) entschlüsselte Lewin die biochemische Rolle, die der Signalstoff NGF für das Schmerzempfinden hat. „Der Nervenwachstumsfaktor – englisch Nerve Growth Factor – ist ein Protein, das vor allem während der Embryonalentwicklung neue Nerven sprießen lässt“, erläutert der Forscher. Aber auch bei Entzündungen oder Verletzungen der Nervenbahnen wird NGF ausgeschüttet. Im Labor konnte Lewin einen Antikörper gegen NGF entwickeln und damit bei Mäusen den Entzündungsschmerz unterdrücken. Diese Entdeckung hat Bedeutung für die Schmerztherapie. Denn NGF steuert auch die Schmerzwahrnehmung beim Menschen. Derzeit laufen klinische Studien für ein NGF-Medikament gegen Osteoarthritis. Noch steht die endgültige Zulassung aus. Lewins Fazit: „Zwischen dem Ergebnis in der Grundlagenforschung im Labor und der Anwendung für die Menschen können leicht eineinhalb Jahrzehnte vergehen.“
Doch Lewin braucht für seine Arbeit nicht nur Geduld, er sucht auch Inspiration. Auf seinem blauen Drehstuhl rollt Lewin, studentische Nickelbrille, dahinter ein wacher, neugieriger Blick, etwas zurück und erinnert sich. In London ging es freitags nach Laborschluss meist in den Pub, oft mit dabei war Patrick Wall. Der Neurophysiologe, ein Mann mit großem Ruf, war schon emeritiert. Wall hatte gemeinsam mit dem Psychologen Ronald Melzack die Gate-Control-Theory entwickelt: die Kontrollschrankentheorie beschreibt eine Art körpereigenes Schmerzhemmsystem. Demnach kommt nicht jeder Schmerzimpuls im Gehirn an, er muss erst eine Schranke im Rückenmark überwinden. „Wall war unglaublich belesen, nicht nur in Naturwissenschaften, auch in Literatur. Ein sehr intellektueller Typ“, schwärmt Lewin. Und Wall war ein begnadeter Methodiker. „Wissenschaft ist nicht Drauf-Los-Experimentieren. Es ist eine intellektuelle Herausforderung“, erinnert Lewin sich an die Gespräche in den Pub-Runden. Gute Wissenschaft setzt auf kluges Forschungsdesign. Das begeistert Lewin bis heute.
Hoffnung auf ein Mittel gegen neuropathischen Schmerz
Am MDC machte er seine zweite große Entdeckung. Noch eine Schmerzerfahrung, wenn man so will. „Unser Tastsinn war bis dahin wenig erforscht“, erzählt Lewin. Die Ausgangsfrage lautet: Wie wird aus einem mechanischen Druck auf die Haut ein elektrischer Reiz für das Nervensystem? Die Antwort: Es gibt überall in der Haut Nervenenden, die in der Lage sind, eine Stimulation in einen elektrischen Reiz umzuwandeln. „Aber der Mechanismus war lange völlig unbekannt.“ Lewins Hypothese: Der Stimulierung erfolgt mechanisch über einen Ionenkanal, das sind porenartige Ventile in der Nervenmembran, durch die elektrisch geladene Teilchen passieren können. Bei Fadenwürmern konnte dies von einer anderen Arbeitsgruppe gezeigt werden. Lewin und seinem Team gelang es 2007 am MDC, die Wirkweise eines Ionenkanals bei Mäusen zu entschlüsseln und später auszuschalten. Die Mäuse waren weniger tastempfindlich. „Erstmals bei einem Säugetier“, merkt der Forscher an.
Die Bedeutung ist enorm. Viele Menschen leiden unter neuropathischem Schmerz. Sie empfinden infolge einer Nervenverletzung oder Diabetes eine kleine Berührung der Haut als stechenden Schmerz. Lewins Team hat einen biochemischen Weg entdeckt, den Schmerz auszuknipsen. STOML3 heißt das Stomatin-artige Protein, das den Ionenkanal der Zellen und damit den Reizfluss steuert. Lewins Team ist es 2017 gelungen, ein Molekül zu finden, das STOML3 hemmt und damit einen Teil der Mechanorezeptoren der Haut. „Das wirkt wie ein Lokal-Anästhetikum“, erläutert Lewin.
Das „House of Targaryen“ im Keller
Der Mann möchte den Schmerz abschalten. Dabei hilft ihm der Nacktmull. Eine Etage unter Lewins Büro, hinter einer unscheinbaren Tür, lebt Lewins Nacktmull-Kolonien. Der Nager verblüfft den Forscher immer wieder aufs Neue. „Der Nacktmull ist das einzige soziale Labortier, das wir kennen“, sagt Lewin. So sozial aber auch wieder nicht. Verirrt sich ein Tier einer anderen Kolonie, wird es tot gebissen. Unter Nacktmullen herrscht eine strikte Hierarchie, sie leben im Matriarchat und wohl auch deshalb mussten Lewin und sein Team die TV-Serie „Game of Thrones“ denken. Daher haben die Kolonien im Labor auch ihre Namen: „House of Targaryen“ steht auf einem Plastikzylinder, die die Erdhöhlen aus Ostafrika ersetzen.
Entdeckt hat Lewin den Nacktmull eher durch Zufall. Der befreundete US-Forscher Thomas Park hatte entdeckt, dass die Haut der Nacktmulle nicht auf Capsaicin reagiert, den heiß-reizenden Wirkstoff von Chili. Sommer für Sommer brachte Park seinem Freund in Berlin ein paar Tiere aus Chicago mit nach Berlin. So gründete Lewin seine eigene Kolonie. Und lernte viel – über die Nager, den Schmerz und die Launen der Natur. „Über die Jahrmillionen haben die Tiere unter der Erde einfach alles abgelegt, was sie Energie kostet und sie nicht zum Überleben brauchen, sogar das Fell“, sagt Lewin. Die Tiere tun das, woran Lewin seit Jahren forscht. Sie knipsen den Schmerz einfach aus.
„Der Nacktmull überrascht uns immer wieder“
Die Evolution hat diesen Mechanismus schon 30 Millionen Jahre vor uns gefunden. Und jetzt wollen wir das gleiche System nutzen, um Patientinnen und Patienten zu behandeln.
Lewins Team hat den biochemischen Mechanismus dazu analysiert und festgestellt: Der Schmerzrezeptor TrkA, der den Reiz bei Säugern ins Zellinnere überträgt, ist bei Nacktmullen in leicht verändert. Das Molekül NGF, das Lewin schon fast drei Jahrzehnte begleitet, kann deshalb keinen Reizstimulus auslösen. Der Nacktmull ist schmerzresistent. Lewin: „Es ist beeindruckend: Die Evolution hat diesen Mechanismus schon 30 Millionen Jahre vor uns gefunden. Und jetzt wollen wir das gleiche System nutzen, um Patientinnen und Patienten zu behandeln.“
Damit könnte die Geschichte über den Schmerzforscher erzählt sein. Aber Lewin ist Wissenschaftler. Ihn treibt die Suche nach Neuem. Der Nackmull erkrankt nicht an Krebs, er wird ungemein alt und kann lange ohne Sauerstoff leben. „Das Tier überrascht uns immer wieder“, sagt Lewin. In seinem Team arbeiten inzwischen auch Verhaltensforscher. „Der Nacktmull hat ein eigenes Vokalsystem mit 20 Lauten. Er zwitschert“, sagt Lewin. Die Forscher untersuchen auch die Sprache der Tiere. Erste Ergebnisse gibt es schon.
300 Nacktmulle hat Lewin bereits. Demnächst ziehen sie um in ein größeres Labor. Tausend Tiere sollen es werden. Das MDC beherbergte dann die weltweit zweitgrößte Laborkolonie für Nacktmulle nach Google. Dort versuchen Forscher das Altersrätsel der Nager zu entschlüsseln. Und Lewin? Sagt, er sei zu alt, „um sich noch mit Altersforschung zu befassen.“ Ein Scherz. Denn neugierig ist der Forscher noch immer. „Experimente sind das Spannende an der Wissenschaft.“
Text: Peter Riesbeck