„Nicht warten, bis eine Erkrankung entsteht“
Herr Sommer, Sie sind seit 1993 am MDC. Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Zeit?
Professor Thomas Sommer: Es war eine völlig andere Stimmung als heute. Fast alle hier waren „Ossis“. Manche brauchten Orientierung, manche wussten nicht weiter. Andere waren beflügelt vom Neuanfang und neugierig, welche Möglichkeiten sich nun ergeben könnten. Und die Neuen hier, viele davon aus dem Westen, kamen in diese Aufbruchsstimmung. Es prallten aber auch Welten aufeinander.
Inwiefern?
Sommer: Wir aus dem Westen haben vermisst, was die Arbeit dort auszeichnet. Dass Sachen geregelt sind und in normalen Abläufen stattfinden. Hier wurden Probleme anders gelöst. Die Menschen waren improvisationsfreudiger als wir Wessis oder wir alle heute. Wenn an einem Inkubator etwas fehlte, hat keiner gesagt: Lass uns was kaufen, damit wir weitermachen können. Das Experiment wurde begonnen, und wenn es mit dem Lasso-Klebeband oder einem Stückchen Strippe war.
Beeindruckender Pioniergeist
Welche Rolle hat der Gründungsdirektor Detlev Ganten gespielt, der das MDC von 1992 bis 2004 geführt hat?
Sommer: Detlev Ganten hat zwei Sachen geschafft. Er hat eine neue Garde von Forschern und Forscherinnen hierher geholt. Und er hat die nicht vergessen, die vorher schon hier waren. Er hat für viele Menschen Wege gefunden oder Perspektiven geschaffen, die sich in diesem westlich dominierten, Exzellenz-getriebenen Wissenschaftssystem nicht heimisch fühlten. Die EU-Fördermittel des Aufbau-Ost-Programms haben da sicherlich geholfen. So konnte er auch die Konkurrenzkämpfe und Animositäten klein halten. Er war der Übervater, und er hat alle willkommen geheißen. Aber er hat von Anfang an keinen Überfluss aufkommen lassen. Ihm ging es um exzellente Forschung. Zu mir sagte er am ersten Tag: „Sie kriegen hier keinen Mercedes, aber auch keinen Trabi. Sie kriegen einen guten VW.“
Professorin Young-Ae Lee: Ich bin erst 2000 mit dem Genomzentrum im Deutschen Humangenomprojekt auf den Campusgezogen. Da gab es schon deutlich weniger Kontraste zwischen Ost und West. Ich erinnere mich, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus dem Osten sich mit Handschlag begrüßt haben. Mir gefiel diese Art, persönliche Wertschätzung zu zeigen. Ich fand den Campus toll – dieses Waldartige, das Grüne und auch die Bauarbeiten rundherum. Es herrschte Aufbruch. Besonders beeindruckte mich, dass die Familie Ganten und andere Forscher auf dem Campus wohnten. Das drückte für mich Pioniergeist aus.
Ist das MDC inzwischen erwachsen und damit vielleicht etwas satt geworden?
Sommer: Auf keinen Fall. Wissenschaft kommt nie irgendwo an. Die Grundeigenschaft von uns Forscher*innen ist die Neugier – und diese Eigenschaft haben hier alle!
Ein gutes Stichwort: Grundlagenforschung steht manchmal im Verdacht, „bloß“ Neugierforschung zu sein. Es wird unterstellt, die Wissenschaft würde den Weg in die Anwendung, also zu den Patientinnen und Patienten, nicht finden.
Sommer: Für mich ist Neugier ein sehr positiver Begriff! Jede Wissenschaft wird von Neugier getrieben. Wir stellen immer wieder neue Fragen, entwickeln Technologien. Wenn wir das nicht mehr tun, dann wären wir tatsächlich tot.
Lee: Unsere Mission ist ein Goldstück: Die Stärke des MDC ist es, eine molekulare Medizin zu machen. Wir wollen die molekularen Grundlagen von Erkrankungen verstehen und uns früh mit der Klinik verzahnen. Anfänglich war der Campus ja auch ein klinischer Campus der Charité. Heute gibt es das Experimental Clinical Research Center (ECRC) als einen klinischen Teil von MDC und Charité, und wir haben direkte Verbindungen in andere Kliniken. Das ist ein Pfund.
Damit komme ich zurück auf die „Neugierforschung“ – ja, es gibt die hypothesen- getriebene und medizinisch orientierte Forschung. Aber viele Arbeiten am MDC haben nicht diese direkte Brücke in die Klinik. Es gibt wichtige Studien über molekulare Mechanismen des Lebens, deren Bedeutung für unsere Gesundheit erst später erfasst werden kann. Diese Arbeiten sind genauso wertvoll. Es gibt einen Wert der Grundlagenforschung selbst, der hochrelevant ist. Und am MDC ist ein Raum dafür entstanden. Das ist ein Schatz, den wir uns hoffentlich bewahren!
„Wir brauchen eine informierte Öffentlichkeit“
In jüngster Zeit, vor allem während der Pandemie, haben Wissenschaftler*innen erlebt, dass ihre Expertise stärker gefragt ist. Zugleich musste sich die Forschung aber auch stärker öffentlich legitimieren, ihre Arbeit wurde manchmal angezweifelt. Was bedeutet das für das MDC?
Sommer: Ich denke schon, dass wir, die Forschungswelt insgesamt, noch stärker kommunizieren müssen, wie Wissenschaft funktioniert: Dass wir in iterativen Prozessen arbeiten, dass wir ein Problem einkreisen, unsere Versuche wiederholen und immer wieder unsere Ergebnisse korrigieren. Wissenschaft kommt in vielen kleinen Schritten voran, im gegenseitigen Kritisieren und Verbessern – all das müssen wir gut erklären. Wir brauchen das Vertrauen der Gesellschaft, und dazu braucht es eine informierte Öffentlichkeit.
Lee: Noch nie hat die Wissenschaft im gesellschaftlichen Dialog, auch in den Medien, eine so wichtige Rolle gespielt wie zu Zeiten der Corona-Pandemie. Die Entwicklung der Impfstoffe war ein Meilenstein, der milliardenfach Leben gerettet hat, und das in so kurzer Zeit. Da bin ich bin voller Bewunderung! Ich erlebe vor allem große Wertschätzung und sehe tolle Ergebnisse. Insofern war es ein Fest der Wissenschaft!
Sie sprechen davon, dass Wissenschaft das Vertrauen und die Unterstützung der Gesellschaft braucht.
Sommer: Wissenschaft ist ein Standortfaktor. Wir sind eine Wissensgesellschaft, das sichert unsere Zukunft. Der Standort Berlin, die ganze Region Berlin-Brandenburg haben ein unheimliches Potenzial, und Investitionen in Forschung lohnen sich. Hier entstehen Arbeitsplätze. Schauen wir auf den Campus Buch oder in den gesamten Großraum Berlin: Adlershof, die anderen Zukunftsorte und Technologiezentren... Aus all dem kann etwas werden, das wirtschaftliche Kraft und Wohlstand schafft und das die Lebensbedingungen von uns allen verbessert. Die Gesundheitsforschung ist da ganz vorne dabei.
Strahlkraft als biomedizinische Forschungseinrichtung
Wo liegen die Meilensteine des MDC?
Sommer: Wir haben drei Phasen erlebt: zunächst die Gründungszeit und das Zusammenfinden. Dazu gehört, dass hier Fachleute aus den Kliniken ihre Labore in unseren Forschungsgebäuden hatten. Eine aufregende Zeit. Dann kam die Zeit, in der die Helmholtz-Gemeinschaft gegründet und das MDC Teil dieser Gemeinschaft wurde, Mitte der 90er Jahre. Damit mussten wir uns in die Programme einfinden, nach denen gefördert wurde: Herz-Kreislauf, Krebs, neurologische Erkrankungen, Systembiologie. Und seit 2021 vereinen wir uns unter dem hochmodernen Programm „Systemmedizin und Herz-Kreislauf-Erkrankungen“. Ich sehe wieder große Aufbruchsstimmung. Wir treiben die Einzelzell- Ansätze für personalisierte Medizin voran, insbesondere im Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des MDC. Das neue, spektakuläre BIMSB-Gebäude in Berlin Mitte haben wir 2019 eröffnet. Auch in der Herzforschung und der vaskulären Biomedizin sind wir exzellent; hier bauen wir neue Partnerschaften auf. Auf beiden Gebieten kooperieren wir eng mit dem Berlin Institut of Health in der Charité. Und, wenn ich das so unbescheiden sagen darf, international stehen wir gut da. Das MDC hat Strahlkraft als biomedizinische Forschungseinrichtung. Es gibt erfolgreiche Ausgründungen wie T-knife, das neuartige Immuntherapien gegen Krebs entwickelt. Man bringt den T-Zellen von Patient*innen bei, solide Tumoren zu erkennen und zu bekämpfen.
Was bedeutet Systemmedizin?
Sommer: Wir untersuchen die molekularen Ursachen vieler verschiedener Erkrankungen. Diese können durchaus identisch sein, etwa bei Krebs und Neurodegeneration. Oder sie beeinflussen den Verlauf einer Infektion. Ein weiteres Beispiel: Mukoviszidose. Lange galt sie als Lungenerkrankung. Doch wenn man die Lungen therapiert hat, nehmen oft andere Gewebe Schaden. Denn es liegt eine Mutation zugrunde, die an verschiedenen Stellen Auswirkungen hat.
Lee: Es gibt hier kein Silodenken. Wir wollen übergreifende Mechanismen von Gesundheit und Krankheit erkennen. Wir nehmen mechanistische Prozesse im menschlichen Körper, wie Fibrose, Entzündungen, Immunität als übergreifende Mechanismen in den Blick, die den ganzen Körper beeinflussen. Das ist total innovativ und wird langfristig die medizinische Versorgung verändern. Es geht um Prävention. Wir wollen nicht warten, bis eine Erkrankung entsteht, sondern wollen verstehen, welche molekularen Schritte zur Krankheitsentstehung beitragen, um einzugreifen, bevor etwas passiert. Wenn uns das gelingt, ist das ein Traum!
Das Gespräch führten Jutta Kramm und Jana Schlütter.
Weiterführende Informationen