DNA and molecules

Rätselhafte Schlaufe im Erbgut

Die Steuerung der Gene ist unermesslich komplex – und erscheint mit einer neuen Publikation in „Molecular Cell“ noch ein wenig komplexer. Ausgerechnet in jenen Genen, die über das Schicksal jeder Zelle des Körpers bestimmen, ist das Erbgut aufgetrennt und bildet Schlaufen. Doch diese sind keine Defekte, wie bisher angenommen. Vielmehr sind sie ein wichtiger Sicherungsmechanismus.

Einen Stapel aus Handy, Laptop, Notizbuch und Kaffeetasse balancierend, eilt Professorin Ana Pombo durch die Gänge ihres Labors. In ihrem Büro, einem Glaskasten inmitten der Laborlandschaft, sitzen bereits zwei Kollegen vor einem Bildschirm voller Daten. „Tut mir leid, wir haben heute einen Gast“, sagt die Forscherin. Also nimmt sie im Seminarraum nebenan Platz, wählt auf ihrem Handy die Nummer ihrer Kollegin Dr. Konstantina Skourti-Stathaki und drapiert das Gerät auf dem Rand ihres Laptops.

Unbekanntes Territorium

Diese Gene werden vielschichtiger und komplexer gesteuert, als wir gedacht haben
Dr. Konstantina Skourti-Stathaki
Dr. Konstantina Skourti-Stathaki früher Postdoc in Ana Pombos Labor

Skourti-Stathaki war vor Kurzem ebenfalls Gast in Ana Pombos Arbeitsgruppe, um sich weit in unbekanntes Forschungsterritorium vorzuwagen. Sie untersuchte jene Gene, die entscheiden, ob sich die Zellen eines Embryos etwa zu Muskeln, Leber oder Nervensystem entwickeln. „Diese Gene werden vielschichtiger und komplexer gesteuert, als wir gedacht haben“, sagt Skourti-Stathaki. Die Hauptrolle spielen Schlaufen im Erbgut, an denen sich der DNS-Doppelstrang aufgetrennt hat. „Wir nennen sie R-Loops, weil zwischen dieser DNS-Schlaufe ein drittes Stück Erbgut aus RNS liegt.“

Mit R-Loops beschäftigt sich die junge Forscherin seit fast zehn Jahren. „Sie sind bereits seit meiner Doktorarbeit meine Leidenschaft“, sagt sie. Als Sir Henry-Wellcome-Stipendiatin hat sie die Fundamente für das Thema gelegt, experimentelle am MDC gearbeitet und ist dann an die Universität Edinburgh gezogen. Die Ergebnisse aus dieser Zeit flossen in eine neue Fachpublikation der beiden Forscherinnen ein, die kürzlich in der aktuellen Ausgabe des renommierten Fachblattes Molecular Cell erschien. „Anderthalb Jahre war ich in Anas Labor, das war eine wunderbare Zeit“, sagt die Forscherin.

Epigenetische Zurückhaltung

Skourti-Stathaki erklärt, dass nicht alle Gene gleich wichtig seien für die Entwicklung der Eizelle zu einer Körperzelle. Einige wenige entscheiden über die Identität jeder Zelle, also in welches Gewebe oder Organ sie sich verwandeln wird. „Diese Gene sind kritische Steuerprogramme in allen Tieren und Pflanzen“, sagt die Wissenschaftlerin. Und die Entwicklungsgene werden indirekt an- und ausgeschaltet, also epigenetisch gesteuert. Am Erbgutfaden selbst wird dabei nichts verändert, anders als das Gerüst, auf welches die DNS wie auf eine Zwirnrolle aufgewickelt ist.

Die DNA-Helix (blassblau) windet sich wie ein Faden um Gerüstproteine (blassgelb und -grün). Zusammen bilden sie in der Zelle eine Reihe von Nukleosomen. Polycomb-Proteine wie der Polycomb Repressive Complex (PRC1, dunkelrot, blau, grün) binden an  die Struktur und verändern die chemische Zusammensetzung des Protein-Anteils des Nucleosoms.

Weil sie vermutete, dass R-Loops eine Rolle in diesen Genen spielen könnten, wandte sie sich für ihr Stipendium an die Epigenetik-Expertin Ana Pombo. „Damals war ich mit meinem Labor noch in London“, sagt Pombo. „Konstantina hat mir 2012 einfach eine E-Mail geschrieben und wir haben uns getroffen.“ Seither stehen die beiden Wissenschaftlerinnen in engem Kontakt. „Die Chemie hat sofort gestimmt.“

Rätselhafte Proteine

Pombo zog ein Jahr später von London nach Berlin und arbeitet seither am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des MDC. Hier beschäftigt sie sich unter anderem mit den Proteinen der „Polycomb“-Familie, die Entwicklungsgene epigenetisch steuern. Polycomb schalte diese Gene ab – aber so, dass sie bei Bedarf sehr schnell wieder verfügbar sind, sagt Pombo: „Die Zelle lauert nur auf einen Auslöser, um die Gene abzulesen.“

„Der Forschungsbedarf auf diesem Gebiet ist riesig, insbesondere bei Menschen und Säugetieren“, sagt Pombo. „Der Polycomb-Mechanismus spielt eine Rolle bei Krebs, bei neurologischen Erkrankungen, sogar bei Schizophrenie.“ Das sei eine wichtige Parallele zu ihrer Forschung an R-Loops, sagt Skourti-Stathaki. Denn wie Polycomb hätten die DNS-Schlaufen in den Nervenzellen eine besondere, wenn auch wenig erforschte Funktion. „Wenn die R-Loops fehlen oder auch die Proteine, die sie auflösen, kommt es zu schweren neurologischen Erkrankungen wie Lähmungen oder dem Verlust der Bewegungskoordination.“

Experimentelles Neuland

2015 traf die junge Forscherin als Postdoktorandin am MDC ein, um das Projekt zu beginnen – drei Jahre, nachdem sie das erste Mal mit Ana Pombo gesprochen hatte. „Wir wollten wissen, ob R-Loops bestimmte Gene inaktivieren. Und wenn diese Gene außerdem durch Polycomb stillgelegt sind, was passiert dann?“

Um diese Fragen zu beantworten, sequenzierte die Postdoktorandin jene Erbgutabschnitte, die R-Loops aufwiesen oder mit Polycomb-Proteinen besetzt waren. „Polycomb und R-Loops zusammen hat sich praktisch niemand zuvor angeschaut“, sagt sie. Sie betrachtete sie zudem ein System, in dem die Entwicklung noch in vollem Gange ist – embryonale Stammzellen von Mäusen. „Wir waren die ersten, die R-Loops zusammen mit Polycomb in undifferenzierten Zellen untersucht haben.“

Paradoxe Ergebnisse

Sie fanden eine Art Sicherungsmechanismus für die Entwicklungsgene. Enthielt ein Polycomb-deaktiviertes Gen auch einen R-Loop, blieb es deaktiviert, selbst wenn die Polycomb-Maschinerie teilweise ausfiel. Pombo vergleicht Polycomb mit einem Fuß über dem Gaspedal, der nur darauf wartet, durchzustarten. „R-Loops sind wie ein Klotz, der zur Sicherheit unter dem Gaspedal liegt.“ In von Polycomb unberührten Genen sei der Effekt jedoch genau umgekehrt. Dort aktivieren die R-Loops die Gene. „Dieses Mal liegt der Klotz auf dem Gaspedal.“

Das neue Modell der Polycomb-Regulation: R-Loops (Mitte) beeinflussen die „abwartende“ Transkriptionsmaschinerie (RNA Pol II) sowie Polycomb-Proteine (PRC1)

„Wir kennen Polycomb schon seit Jahrzehnten“, sagt Skourti-Stathaki. „Und trotzdem hält diese wunderbare Gruppe an Proteinen immer wieder unerwartete Überraschungen bereit.“ Bislang galt für die Proteine ein recht einfacher Mechanismus. Es gab eine feste Abfolge, wann welche Einzelkomponenten von Polycomb an das Erbgut bindet und was sie dabei tut. Dieses Modell ist nun nicht mehr haltbar. „Es viel komplexer“, sagt Ana Pombo. „Es gibt offenbar unterschiedliche Ebenen der Repression durch Polycomb.“ Und die Erbgutschlaufen spielten dabei eine wichtige Rolle.

Es ist die Kombination von zwei Spezialisten, die diese Arbeit so erfolgreich gemacht hat
Ana Pombo
Prof. Ana Pombo Leiterin der AG “Epigenetische Regulation und Chromatinstruktur”

Neue Ufer

Vieles sei immer noch unbekannt. Zum Beispiel, ob die Kombination von R-Loops und Polycomb für Krebs- oder Nervenerkrankungen relevant sind. „Machen R-Loops die Zelle robuster oder schwächer? Wir wissen es einfach nicht“, sagt Pombo. „Dieses Forschungsfeld ist so jung, das ist sehr, sehr spannend.“

Ana Pombo muss zu ihrem nächsten Termin. Sie verabschiedet sich von ihrer Kollegin, steckt das Handy wieder in ihre Jackentasche und schließt den Deckel des Computers. „Es ist die Kombination von zwei Spezialisten, die diese Arbeit so erfolgreich gemacht hat“, sagt sie. „Ohne Konstantina wäre ich nicht einmal auf die Idee gekommen, mir das Thema so genau anzusehen.“ Sie stapelt Notizen und Kaffeetasse wieder auf den Laptop, jongliert sie mit der linken Hand und drückt mit der rechten die Tür zu ihrem gläsernen Büro auf. Ihr Gast, einer der führenden Experten auf seinem Gebiet, wartet bereits auf sie.

Weiterführende Links

Literatur

Konstantina Skourti-Stathaki et al. (2019): „R-Loops Enhance Polycomb Repression at a Subset of Developmental Regulator Genes.“ Molecular Cell 73. doi:10.1016/j.molcel.2018.12.016