Was lesen Sie gerade, Herr Tano?
Da ich nun weniger Zeit zum Lesen habe als früher, bin ich auf Audio umgestiegen, denn das kann man einfacher unterwegs hören. Podcasts wie „Pod save the world“ und „Freakonomics“ begleiten mich, wenn ich auf Achse bin. Hörbücher mag ich mittlerweile auch sehr gerne. Vor kurzem habe ich mir „Caste: the origins of our discontents“ angehört, geschrieben von Isabel Wilkerson, eine mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalistin aus den USA. Als Mensch afrikanischer Herkunft, der lange in den USA gelebt hat und nun in Europa, hat dieses Buch sofort mein Interesse geweckt; vor allem, als afrikanische Studierende bei ihrer Flucht aus der Ukraine an den europäischen Grenzen schlecht behandelt wurden. Auch die Unterschiede in der Medienberichterstattung sind auffällig. Über diesen Krieg wird ganz anders berichtet, als über viele andere Kriege und Krisen auf der ganzen Welt (beispielsweise die Flüchtlingskrise und viele andere aktuelle Ereignisse in der Welt).
„Caste“ stellt die Hypothese auf, dass der Rassismus in den USA in demselben Licht betrachtet werden kann, wie andere Kastensysteme – insbesondere das in Indien und das, das während des Naziregimes in Deutschland galt. Alle drei beziehen sich auf „eine künstliche Konstruktion“, argumentiert Wilkerson, eine feste und verankerte Rangfolge menschlicher Werte, die die vermeintliche Überlegenheit einer Gruppe gegenüber der vermeintlichen Unterlegenheit anderer Gruppen auf der Grundlage von Abstammung und zumeist unveränderlichen Merkmalen festlegt. Merkmale, die abstrakt betrachtet neutral wären, denen aber eine Bedeutung auf Leben und Tod zugeschrieben wird. In dem Buch wird ein Großteil der Geschichte der USA behandelt, beginnend mit der Sklaverei, dem Bürgerkrieg, den Jim-Crow-Gesetzen im Süden, den Bürgerrechtsbewegungen und den jüngeren politischen Veränderungen mit der Wahl von Barack Obama und Donald Trump. Wilkerson zeigt auf, dass schwarze (und andere nicht weiße) Amerikaner*innen durch die Regierung und ihre Mitbürger*innen minderwertig behandelt werden. Das verdeutlicht, warum viele weiße Amerikaner*innen gegen ihre eigenen Interessen wählen, um dieses System zu erhalten.
Sich durch Räume der dominanten Kaste bewegen
Aus biomedizinischer Sicht war Kapitel 24 des Buchs besonders interessant. Die Autorin beschreibt, wie das amerikanische Kastensystem die Gesundheit der Angehörigen der niedrigen Kaste beeinflusst. Sie erzählt die Geschichte der Diskriminierung eines Nigerianers, der als 17-Jähriger in die USA kam, um dort zu studieren, und konzentriert sich auf die tödlichen Auswirkungen des Kastensystems.
Angehörige niedriger Kasten haben zum Beispiel aufgrund der ständigen Angst, die mit der Bewegung durch Räume der dominanten Kaste verbunden ist, einen höheren Blutdruck und höhere Werte des Stresshormons Cortisol. In verschiedenen Studien wurden die Telomerlängen von schwarzen und weißen Amerikaner*innen verglichen und es überrascht überhaupt nicht, dass Angehörige der niedrigen Kasten überproportional häufig von Bluthochdruck und Stress betroffen sind, was ihre Telomere erheblich verkürzt. Schwarze sterben durchschnittlich fünf Jahre früher als Weiße.
Nennenswert ist, dass Isabel Wilkerson am Ende des Buchs auf die Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung durch Albert Einstein eingeht, der nach der Machtübernahme des Naziregimes in die USA ins Exil gegangen war. Einstein verhielt sich damals so, dass man ihn heutzutage einen „Ally“ nennen würde. Er hatte den Vorsitz eines Komitees zur Beendigung der Lynchjustiz inne, setzte sich für Bürgerrechte ein und beherbergte eine schwarze Opernsängerin (Marian Anderson), der man ein Zimmer in einem Hotel in der Nähe seines Hauses in Princeton, New Jersey, verweigerte.
„Caste“ ist ein hervorragendes Hörbuch, das uns an ungerechte Unterdrückungssysteme und deren Auswirkungen auf das Leben der Unterdrückten erinnert. Es ist offensichtlich, dass „People of Color“ auf der ganzen Welt immer noch Ungleichheiten erfahren, die fest im Gefüge vieler Gesellschaften verankert sind. Nun, da Unternehmen und viele von uns über Diversität, Gleichwertigkeit/Gleichberechtigung und Inklusion nachdenken, kann uns das Buch helfen zu verstehen, welch gewaltige Aufgabe das Aufbrechen solcher Systeme darstellt. Das Buch hat nach seiner Publikation viel Beifall erhalten und Netflix produziert derzeit eine Verfilmung. Die Regie wird Ava Duvernay führen, die sich bereits für andere großartige Dokumentationen zu Rassismus in den USA, wie „Der 13.“ und „When They See Us“, verantwortlich zeichnet. Diese Dokus kann ich ebenfalls wärmstens empfehlen.
Isabel Wilkerson: „Caste – The origins of our discontents“, 2020, Random House Audio (bisher nur in englischer Sprache)