Wenn die Kinderhaut nicht mehr richtig schützen kann

MDC-Wissenschaftler haben gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Institutionen weltweit eine Studie in Nature Communications veröffentlicht, die wichtige Zusammenhänge beim atopischen Marsch aufdeckt. Dabei handelt es sich um eine besonders schwere Form des Verlaufs von Allergien. Die Forscherinnen und Forscher identifizierten sieben genetische Risikoregionen für den atopischen Marsch.

Young-Ae Lee hat zwei Berufe: Als Kinderärztin hilft die Professorin in ihrer Spezialsprechstunde vor allem den kleinen Patienten, die unter Allergien wie Neurodermitis oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten leiden. Als Forscherin untersucht sie gemeinsam mit ihrer Arbeitsgruppe am MDC, welche Gene dabei eine Rolle spielen und wie dieses Wissen möglichst rasch zur Therapie oder Prävention eingesetzt werden kann. Kürzlich erschien unter ihrer Federführung eine Studie in Nature Communications, die den atopischen Marsch – eine besonders schwere Form des Verlaufs von Allergien – beleuchtet.

Abbildung: AG Lee

Allergien sind chronisch entzündliche Erkrankungen, bei denen das Immunsystem Antikörper gegen Umweltallergene, wie Gräserpollen oder Nahrungsmittel bildet, die es eigentlich als harmlos erkennen sollte. Im ungünstigsten Fall durchlaufen Betroffene eine typische Allergiker-Karriere, die schon im ersten Lebensjahr mit juckenden Hautentzündungen (Neurodermitis) beginnt. Auf Neurodermitis folgen Nahrungsmittelallergien, Asthma und später dann Heuschnupfen.

 

Die Wissenschaftler haben in einer genomweiten Assoziationsstudie nun sieben genetische Risikoregionen für den atopischen Marsch identifiziert. Zwei der sieben Genregionen waren bislang unbekannt und betreffen spezifisch den Zusammenhang zwischen Neurodermitis und Asthma. Der Studie zufolge sind es insbesondere jene Genregionen, die bei Neurodermitis eine Rolle spielen, die das Risiko erhöhen, an weiteren Allergien zu erkranken. Die Meta-Analyse schloss nahezu 20.000 Menschen aus 12 Studien ein.

Erstautor der Studie ist Ingo Marenholz, Postdoc in der Arbeitsgruppe von Young-Ae Lee. Das erste, was auffällt, wenn man in sein Büro kommt, ist der Computerbildschirm, den er hochkant gestellt hat. Wieso? „Da kann ich die Tabellen einfach besser überblicken.“ Er klickt ein paar Mal in einem tief verästelten Verzeichnis auf seiner Festplatte und schon füllt sich der Bildschirm mit Zahlenkolonnen: Hunderte und tausende Datenpunkte aus genomweiten Assoziationsstudien, die genetische Varianten – „Single Nucleotide Polymorphisms“ (SNPs) – anzeigen. Bei einer genomweiten Assoziationsstudie werden alle Chromosomen durchmustert, um jene Veränderungen zu finden, die bei den Betroffenen häufiger vorkommen als bei den Gesunden. Für ihre Meta-Analyse haben die Mitglieder der Gruppe mehrere Millionen von SNPs gewissermaßen sortiert. Erst ab einer bestimmten statistischen Signifikanz wurden Veränderungen genauer unter die Lupe genommen. „Man braucht für derartige Studien eine möglichst große Fallzahl“, erläutert Ingo Marenholz.

Aus diesem Grund haben die Berliner Wissenschaftler Kooperationspartner weltweit angeschrieben, von denen sie wussten, dass sie gut charakterisierte Allergie-Kohorten mit langen Beobachtungszeiträumen hatten. Ihre Bitte: Untersucht für uns all jene Fälle, in denen auf frühkindliche Neurodermitis eine Asthmaerkrankung folgte. So kamen zu der von Young-Ae Lees Gruppe aufgebauten Kohorte von mehr als 500 Fällen rund 1.900 weitere Kinder mit diesem Krankheitsbild aus Europa, Australien und den USA. Zusätzlich zu den auf diese Weise identifizierten 2.428 Krankheitsfällen wurden Daten von 17.034 gesunden Personen eingeschlossen. Alle Studien dazu waren genomweite Assoziationsstudien (GWAS).

In einer ersten Phase der statistischen Auswertung („discovery phase“) zeigte sich bereits ein Treffer, der den Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus früheren GWAS bekannt war. Außerdem gab es mehrere Genregionen, bei denen ein genauerer Blick auf die SNPs lohnenswert erschien. In der darauf folgenden zweiten Auswertungsphase („replication phase“) kristallisierten sich aus den Kandidatenregionen dann sieben „hits“ heraus: Genregionen, die den atopischen Marsch beeinflussen. „Aus unserer Sicht war die prominente Rolle der Neurodermitis-Gene bei der späteren Asthmaentwicklung besonders interessant“, sagt Young-Ae Lee. Die Kinderärztin leitet neben ihrer MDC-Forschungsgruppe auch die Hochschulambulanz für Pädiatrische Allergologie und Neurodermitis am Campus Berlin-Buch. Die Ergebnisse ihrer jüngsten Studie legen die Vermutung nahe, dass Neurodermitis als solche einen Risikofaktor für Asthma darstellt.

Ingo Marenholz erläutert, wie die Krankheitsentwicklung verlaufen könnte. Er legt dabei Wert auf die Einschränkung „könnte“, denn „was wir finden, ist nicht eine einzige Erklärung, sondern ein Puzzlestein.“

Demnach wäre es so, dass bestimmte Menschen von Geburt an ein höheres Risiko haben, an Neurodermitis zu erkranken. Die durch Neurodermitis geschädigte Haut der Kinder ist dann nicht mehr in der Lage, andere Allergie-auslösende Stoffe vom Körper fernzuhalten. „Es kommt zu einer systemischen Sensibilisierung über die Haut“, sagt Ingo Marenholz. Der Organismus ist gewissermaßen einem höheren allergischen Stress ausgesetzt und bildet Antikörper. Später erfolgt über die Lunge ein erneuter Kontakt mit Antigenen, mit denen das Immunsystem dann nicht mehr fertig wird – Asthma ist eine mögliche Konsequenz. Das hauptsächliche genetische Risiko für den atopischen Marsch wäre damit bei den Neurodermitis-Genen zu suchen.

Dieses Wissen kann helfen, in Zukunft Risikopatienten über eine Genotypisierung zu identifizieren. Aber es hat womöglich einen direkteren Nutzen: „Unsere Entdeckung legt nahe, dass die Prävention oder die konsequente Behandlung der frühkindlichen Neurodermitis möglicherweise das Fortschreiten des atopischen Marsches hin zum Asthma unterbrechen kann“, sagt Young-Ae Lee.

Dies ist eine Studie, die wir in unserer Reihe "Research Highlights" vorstellen. Ausgesucht von einem Komitee von MDC-Arbeitsgruppenleitern, zeigen diese "Highlights" herausragende Beispiele unserer Wissenschaft. 

Highlight Referenz:

Meta-analysis identifies seven susceptibility loci involved in the atopic march (Nature Communications; DOI: 10.1038/ncomms9804)

Ingo Marenholz, Jorge Esparza-Gordillo, Franz Rüschendorf, Anja Bauerfeind, David P. Strachan, Ben D. Spycher, Hansjörg Baurecht, Patricia Margaritte-Jeannin, Annika Sääf, Marjan Kerkhof, Markus Ege, Svetlana Baltic, Melanie C. Matheson, Jin Li, Sven Michel, Wei Q. Ang, Wendy McArdle, Andreas Arnold, Georg Homuth, Florence Demenais, Emmanuelle Bouzigon, Cilla Söderhäll, Göran Pershagen, Johan C. de Jongste, Dirkje S. Postma, Charlotte Braun-Fahrländer, Elisabeth Horak, Ludmila M. Ogorodova, Valery P. Puzyrev, Elena Yu Bragina, Thomas J. Hudson, Charles Morin, David L. Duffy, Guy B. Marks, Colin F. Robertson, Grant W. Montgomery, Bill Musk, Philip J. Thompson, Nicholas G. Martin, Alan James, Patrick Sleiman, Elina Toskala, Elke Rodriguez, Regina Fölster-Holst, Andre Franke, Wolfgang Lieb, Christian Gieger, Andrea Heinzmann, Ernst Rietschel, Thomas Keil, Sven Cichon, Markus M. Nöthen, Craig E. Pennell, Peter D. Sly, Carsten O. Schmidt, Anja Matanovic, Valentin Schneider, Matthias Heinig, Norbert Hübner, Patrick G. Holt, Susanne Lau, Michael Kabesch, Stefan Weidinger, Hakon Hakonarson, Manuel A. R. Ferreira, Catherine Laprise, Maxim B. Freidin, Jon Genuneit, Gerard H. Koppelman, Erik Melén, Marie- Hélène Dizier, A John Henderson & Young Ae Lee

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