Schneiderei 9.11.

Plötzlich war es soweit

Professor Claus Scheidereit, Leiter der Arbeitsgruppe „Signaltransduktion in Tumorzellen“

Viele machten wegen der unglaublichen Situation einen geradezu schlafwandlerischen Eindruck, ich vielleicht auch.

Ich kam im Dezember 1988 aus New York an das Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin-Dahlem. Die Mauer war für mich ein Faktum, an dem sich, so schien mir, so bald nichts ändern sollte. Noch im Frühjahr 1989 ging ich mit neuen Mitarbeitern aus den USA auf Sightseeing-Tour und versicherte den sichtlich Eingeschüchterten auf einer der Besuchertribünen an der Mauer am Brandenburger Tor (“When do you think this is taken down?“): “You will not see that in your lifetime.“ Ich selbst hatte weder Verwandte noch Bekannte in der DDR und war nur sporadisch mit einem Tagesvisum in Ost-Berlin. Jahre zuvor hatte ich als Marburger Chemie-Student dort Lehrbücher, gekauft die an unserem Fachbereich empfohlen und häufig verwendet wurden. Während meiner Zeit in Berlin wurde der Anblick der Mauer, zum Beispiel bei nächtlichen Streifzügen durch Kreuzberg, zu etwas fast Vertrautem.

Das Labor leerte sich schnell.
Prof. Dr. Claus Scheidereit
Professor Claus Scheidereit Leiter der Arbeitsgruppe "Signaltransduktion in Tumorzellen"

 

 

 

 

 

Dann, im Sommer 1989, waren da die Flüchtlinge in den Botschaften, das Neue Forum und auch die Sorgen wegen der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratie-Bewegung im Juni in Peking. Alle verfolgten die täglichen Nachrichten intensiv. In dem Labor meiner Arbeitsgruppe waren am Abend die Radios und ein kleiner Fernseher immer eingeschaltet – auch am 9. November 1989. Dort sah ich die Pressekonferenz mit Schabowskis überraschender Mitteilung über die Grenzöffnung. Die Stimmen der Reporter an den Grenzübergängen überschlugen sich vor Aufregung. Das Labor, normalerweise auch am späten Abend gut besetzt, leerte sich schnell.

Der Autor in seinem Berliner Büro in der Harnackstraße. Das Laborgebäude am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik existiert heute nicht mehr.

Auch ich fuhr kurz vor Mitternacht in die City-West. Am Kurfürstendamm und Tauentzien waren Menschenmassen auf den Straßen, die allermeisten kamen wohl aus dem Osten. Viele machten wegen der unglaublichen Situation einen geradezu schlafwandlerischen Eindruck, ich vielleicht auch. Andere wieder waren sehr ausgelassen und in Feierstimmung.

In den folgenden Tagen waren wir oft an der Mauer und verfolgten die Geschehnisse. Einige Mitglieder meines Teams übten sich als Mauerspechte. Ein Mitarbeiter aus Boston wurde im Labor am Telefon live über die Berliner Vorgänge interviewt (“Marc, you are now on the air in Maryland“). In den folgenden Wochen bekamen wir in Dahlem häufig Besuch von Ost-Berliner Wissenschaftlern. Ich war überrascht, dass sich mehrere der älteren Kollegen sehr gut kannten, noch aus der Zeit vor dem Mauerbau oder von internationalen Kongressen, an denen die Teilnahme von Forschern beider Seiten erlaubt war.

 

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