Tanja Hinz erfasst im Rahmen der Untersuchungen der Nationalen Kohorte den Zahnstatus der Teilnehmer

Auf den Zahn gefühlt – die Nationale Kohorte

Was hält uns gesund? Dieser Frage geht Deutschlands größte Bevölkerungsstudie, die Nationale Kohorte, in den kommenden 30 Jahren nach. Was auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei zukommt, hat das MDC getestet.

„Als Nächstes ziehen wir die Zähne“. „Ziehen?!“, rufe ich aufs Höchste alarmiert. „Zählen“, sagt Tanja Hinz freundlich. Das Hörvermögen der Teilnehmer wird zumindest bei der Level 1-Untersuchung der Nationalen Kohorte leider nicht getestet. Tanja Hinz ist Untersucherin bei Deutschlands größter Bevölkerungsstudie. Die gelernte Medizinische Fach- und Studienassistentin ist gerade dabei, mit einem Mundspiegel meinen Zahnstatus zu erfassen. Das ist Teil des Gesundheitschecks. Etwas verschämt erwähne ich den halben Backenzahn, den ich mir vor zwei Wochen an einer Kirsche ausgebissen habe. Der zählt aber mit, sagt sie.

Heute Morgen, pünktlich um neun Uhr stand ich am Empfangstresen des Studienzentrums Berlin-Nord. Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), das zur Helmholtz-Gemeinschaft gehört, leitet es. Ziel der Langzeitstudie ist es, die Ursachen und Risikofaktoren von Volkskrankheiten wie Krebs oder Diabetes im Zusammenhang mit Lebensstil und genetischen Faktoren aufzuklären. Das soll der Prävention und Früherkennung dienen. „Gemeinsam forschen für eine gesündere Zukunft“, so lautet der Slogan der Nationalen Kohorte. Ich bin neugierig, was mich erwartet.

Insgesamt 200.000 Männer und Frauen zwischen 20 und 69 Jahren werden bundesweit untersucht. Das Studienzentrum in Berlin-Buch übernimmt allein 10.000 Probanden. Mitte Juni ist die Langzeitstudie offiziell gestartet. Ich gehöre nicht zu den Menschen, denen in den vergangenen Wochen ein Brief der Nationalen Kohorte ins Haus geflattert ist. Ich werde im Rahmen eines Testprogramms untersucht, mit dem unter anderem das Untersuchungspersonal für die streng standardisierten Bedingungen geschult wird. Nichtsdestotrotz absolviere ich dasselbe Untersuchungsprogramm wie die echten Teilnehmer.

Etwa 16.000 Adressen hat das Studienzentrum vom Einwohnermeldeamt bekommen. Mittels eines Zufallsverfahrens wurden diese aus dem Einwohnermelderegister gezogen. Innerhalb der nächsten fünf Jahre soll bundesweit jeder der 200.000 Probanden seine erste Untersuchung erhalten haben. Zwei bis drei Jahre danach erfolgt eine erneute Kontaktaufnahme zu den Teilnehmern. Dabei wird abgefragt, ob Erkrankungen aufgetreten sind oder sich Parameter verändert haben. Nach vier Jahren folgt dann die zweite Untersuchung. Ohne vorherige Einladung kann man sich für die Nationale Kohorte als Proband jedoch nicht melden.

Das Widerspruchsrecht ist jederzeit möglich

Jeder Teilnehmer hat jederzeit ein Widerspruchsrecht. Foto: Maimona Id, MDC

Studienärztin Sabine Mall informiert mich, wie jeden Teilnehmer, ausführlich über den Ablauf der Untersuchung und über Fragen zum Datenschutz. Voraussetzung für die Untersuchung ist meine Einwilligungserklärung. Punkt für Punkt geht sie den Text mit mir durch. Insgesamt elf Mal muss ich mit einem Ja bestätigen, bevor ich unterschreiben darf. Aber ich sehe ein, dass es auch jenseits der NSA-Affäre wichtig ist, zu wissen, was mit den eigenen Daten passiert. Ich habe zu jeder Zeit ein umfassendes Widerspruchsrecht.

Ich stimme zu, dass meine Personendaten, wie Anschrift und Telefonnummer in der Vertrauensstelle des hiesigen Studienzentrums sowie in der unabhängigen Treuhandstelle der Nationalen Kohorte in Greifswald gespeichert werden – getrennt von meinen Untersuchungsdaten, die werden verschlüsselt. Das nennt man pseudonymisiert. Ich übertrage dem Verein Nationale Kohorte die Eigentumsrechte an meinen Blut- und Urinproben und erkläre mich damit einverstanden, dass die wissenschaftlichen Daten daraus zur Erforschung häufiger Volkskrankheiten genutzt werden dürfen.

Zusätzlich entbinde ich meinen Hausarzt von der Schweigepflicht. So darf die Kohorte meine Daten vom behandelnden Arzt anfordern, falls in den kommenden Jahren Krankheiten auftreten.  Die Forscher können dann Rückschlüsse auf die Ursache und Entstehung einer Erkrankung ziehen. „Es hört sich etwas makaber an. Aber damit die Studie Ergebnisse liefert, müssen die Probanden erst einmal erkranken und diese Daten zeitnah erfasst werden“, betont Tobias Pischon, Leiter und Sprecher des Kohorten-Clusters Berlin-Brandenburg. Er weist noch einmal explizit daraufhin, dass bei der Studie Daten lediglich erfasst und gesammelt werden. Eine ärztliche Diagnose wird nicht gestellt.

„Und jetzt bitte mal frei machen“

Gelernt ist gelernt: Für die Bioproben nimmt Tanja Hinz auch Blut ab. Foto: Maimona Id, MDC

Untersucherin Tanja Hinz übernimmt. Sie fragt mich, welche Medikamente ich einnehme. Originalverpackungen sollen die Probanden zum Einscannen mitbringen. Wir kommen zum, für mich, schlimmsten Untersuchungsteil, der Blutabnahme. Überwiegend schlechte Erfahrungen haben mich etwas weinerlich werden lassen und so zähle ich panisch die Unzulänglichkeiten meiner Venen auf: sie rollen gerne mal zur Seite, platzen oder kollabieren. Tanja Hinz bringt das nicht aus der Ruhe. Geradezu schmerzlos gleitet die Nadel in mein Gefäß. Ab jetzt kann die Untersucherin mit mir machen, was sie will. Ich habe das größte Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Blut und Urin werden in einem extra für die Kohorte geschaffenen Bioprobenlager auf dem Campus aufbewahrt.

Verschiedene Konzentrations- und Gedächtnistests zeigen, wie es um meine kognitive Leistungsfähigkeit bestellt ist. „Es wird gemein“, warnt mich Tanja augenzwinkernd. Ein Blatt Papier ist mit den Wörtern Rot, Gelb, Grün und Blau gefüllt. Gedruckt sind die Wörter aber in einer gegensätzlichen Farbe, Rot ist beispielsweise gelb gedruckt. Aufgabe ist, die Druckfarbe zu identifizieren – natürlich unter Zeitdruck. Am sogenannten Pegboard testet sie meine Fingerfertigkeit. Die Herausforderung besteht darin, mit beiden Händen gleichzeitig,  kleine, schlüpfrige Metallstäbchen zu greifen und in dafür vorgesehene Löcher zu stecken.

Zeit zählt: Am Pegboard testet Tanja Hinz die Feinmotorik der Probanden. Foto: Maimona Id, MDC

Ein Interview zur Lebensweise und zu Vorerkrankungen beinhaltet Fragen zur eigenen Ausbildung und die der Eltern, zum Einkommen und zur Wohnsituation. Aber auch Verhütung wird beispielsweise thematisiert. Über die Frage, ob ich im Altenheim wohne, muss ich lachen. Mich tröstet, dass auch 20-jährige Probanden darauf antworten müssen. Bei der Messung der Handgreifkraft müssen die Probanden den Griff des Dynamometers, das aussieht wie eine "Star Trek"-Laserpistole, mit einer Hand so fest wie möglich zusammendrücken. Damit wird die körperliche Muskelkraft beurteilt. Meine Werte bewegen sich an der untersten Normgrenze. Selbst meine zehnjährige Nichte würde mich im Armdrücken besiegen.

Das Dynamometer misst die Handgreifkraft und damit die körperliche Muskelkraft der Teilnehmer. Foto: David Ausserhofer, MDC

„Und jetzt bitte mal frei machen“, heißt es plötzlich im nächsten Untersuchungsraum. Ich ziere mich etwas. Tanja versichert mir, dass jedes Untersuchungsmodul freiwillig ist. Ich komme mir jedoch albern vor und lasse die Hüllen fallen – für die bioelektrische Impedanzanalyse, kurz BIA. Dabei misst eine Waage mittels eines schwachen elektrischen Wechselstroms meine Körperzusammensetzung: Neben der Muskel-, Fett- und Knochenmasse sowie dem Wasseranteil, auch den Ruheenergie- sowie den Gesamtenergiehaushalt. 1.900 Kalorien am Tag darf ich zu mir nehmen, ohne dass ich Gewicht zulege, teilt mir die Waage mit. Anschließend misst Tanja die Gefäßverschlussdrücke an Armen und Beinen. Darüber wird die arterielle Gefäßsteifigkeit bestimmt, das heißt, wie elastisch meine Gefäße sind. Denn das kann in einem direkten Zusammenhang mit Bluthochdruck stehen. Anschließend folgt die Messung der Lungenfunktion.

„Keine Ahnung, was Space und Spice genau sind“

Der letzte Punkt besteht in einer etwa 45-minütigen Befragung am Touchscreen. So langsam werde ich müde und hungrig. Zeit für den Imbiss, den jeder Teilnehmer bekommt, ein halbes Brötchen und einen Apfel. Halbwegs gestärkt geht es ans Eingemachte. So empfinde ich die Fragen zumindest: Bin ich jemand, der verzeihen kann? Wie viele enge Freunde besitze ich? Detailliert soll ich angeben, wie oft und wie viel ich welchen Alkohol trinke. Vorgegeben sind Sekt, Likör, Bier, Schnaps und Wein. Durch die vielen vorgefertigten Tages-, Wochen-, und Monatsangaben, komme ich fast durcheinander mit dem Ankreuzen. Bei dem Fragenblock zu Drogen soll ich angeben, welche ich konsumiere. Keine Ahnung, was Space und Spice genau sind. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich das nicht nehme.

„Hatten Sie je Gedanken, dass sie lieber tot wären oder sich Leid zufügen möchten?“ Bei dieser Frage muss ich schon schlucken. Zwar ging es mir nie so schlecht, aber für diese Befragung muss ich mich bewusst mit mir und meinem Leben auseinander setzen, sofern ich die Fragen ehrlich beantworten möchte. Dass die Antworten in einem direkten Zusammenhang mit meiner Gesundheit stehen können, macht mich nachdenklich. Genau das betrachte ich aber als Bereicherung. Mein Resümee: Schon allein dafür, hat es sich gelohnt, mitzumachen.

„Gemeinsam forschen für eine gesündere Zukunft – die Nationale Kohorte (NAKO)“

200.000 Männer und Frauen im Alter von 20 bis 69 Jahren werden im Rahmen der Langzeitstudie an 18 Studienzentren in Deutschland über mindestens 30 Jahre medizinisch untersucht. Nach vier bis fünf Jahren gibt es eine Folgeuntersuchung für alle Probanden. Ziel ist es, die Risikofaktoren für das Erstauftreten chronischer Erkrankungen wie Krebs, Diabetes mellitus, Infektionskrankheiten, Herz-, Kreislauf- und Gefäßkrankheiten und Neuro-Psychiatrische Erkrankungen zu erforschen. Daraus sollen Strategien für eine bessere Vorsorge und Behandlung von Volkkrankheiten entwickelt werden.
Alle Untersuchungen werden nach streng standardisierten Bedingungen in allen Studienzentren einheitlich durchgeführt. Die Basisuntersuchung („Level-1“) dauert etwa drei Stunden. 40.000 der 200.000 Teilnehmer erhalten an allen Studienzentren weitergehende zusätzliche Untersuchungen (Level 2) wie EKG, Echokardiographie oder Retinafotografie, die etwa 1,5 Stunden in Anspruch nehmen. Zusätzlich wird an fünf Standorten bei insgesamt 30.000 Teilnehmern eine einstündige MRT (Magnetresonanz-Tomographie)-Untersuchung durchgeführt.
An der Nationalen Kohorte sind Zentren der Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Institute, Universitäten und andere Forschungseinrichtungen in Deutschland beteiligt. Sie wird aus öffentlichen Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), der Helmholtz-Gemeinschaft und der Bundesländer finanziert.

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Beitragsbild: Auf den Zahn gefühlt: Tanja Hinz erfasst im Rahmen der Untersuchungen der Nationalen Kohorte auch den Zahnstatus der Teilnehmer. Foto: Maimona Id, MDC