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Mikrogliazellen - das Immunsystem des Gehirns

Störungen lösen offenbar Entstehung schwerer Nervenleiden aus - Erst seit kurzem ist bekannt, daß das Zentrale Nervensystem (ZNS) über ein eigenes Immunsystem verfügt. Das Abwehrsystem des ZNS (Gehirn und Rückenmark) wird von den sogenannten Mikroglia-Zellen gebildet, wie der Neurowissenschaftler Prof. Georg W. Kreutzberg vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie, Martinsried, nachweisen konnte.

In einer Pressekonferenz anläßlich des 1. Kongresses der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft sagte Prof. Kreutzberg am Montag, den 26. Februar 1996, in der Humboldt-Universität zu Berlin, daß sich Hinweise verdichteten, wonach Mikrogliazellen offenbar auch eine Rolle bei der Entstehung oder Verschlechterung von Erkrankungen wie Schlaganfall, Alzheimer-Krankheit, Down-Syndrom, Multipler Sklerose, Parkinson sowie Demenz bei Aids spielten.

Die Blut-Hirn-Schranke verwehrt den Zellen des Immunsystems, den weißen Blutzellen, normalerweise den Zutritt in das Zentrale Nervensystem. Nur bei Verletzungen von Blutgefäßen oder schweren Erkrankungen gelangen die weißen Blutzellen in Gehirn und Rückenmark. Wie aber schützen sich Gehirn und Rückenmark vor Krankheitserregern, wenn sie keine Immunzellen haben? Vor mehr als 60 Jahren stellte der spanische Histologe Pio del Río-Hortega (1882-1945) die Hypothese auf, daß eine bestimmte Gruppe von Gliazellen, die Mikroglia-Zellen, die Immunzellen des Zentralen Nervensystems seien. Erst vor rund fünf Jahren konnte diese Hypothese bestätigt werden. Prof. Georg W. Kreutzberg vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in Martinsried konnte nachweisen, daß Mikrogliazellen im Zentralen Nervensystem die gleiche Funktion wie die sogenannten Freßzellen des Immunsystems (Makrophagen) haben: Sie verschlingen Krankheitserreger und abgestorbene Zellen.

Gliazellen machen die Mehrzahl der Zellen im Gehirn aus. Sie übersteigen die Zahl der rund 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) um ein mehrfaches. Lange Zeit wurden Gliazellen nur als Stütz- und Bindegewebe des Gehirns (griechisch glia, Kitt) angesehen. Inzwischen weiß man, daß sie aber auch andere Funktionen erfüllen. Gliazzellen werden in drei Zelltypen unterteilt: Astrocyten und Oligodendrocyten, sie werden als Makroglia bezeichnet, sowie die Mikroglia. Astrocyten sorgen u. a. für die reibungslose Signalverarbeitung im Gehirn, Oligodendrocyten bilden die schützende Hüllschicht Myelin, die eine rasche elektrische Signalübermittlung im Nervensystem ermöglicht. Mikrogliazellen, die Immunzellen des Gehirns, kommen im gesamten Zentralen Nervensystem vor und sind dort ebenso zahlreich wie die Neuronen.

Mikroglia-Zellen haben im Ruhezustand verästelte Fortsätze und bilden ein Verteidigungsnetz. Bei Verletzungen oder Infektionen im Gehirn verlassen sie ihren Verbund. Sobald sie auf die Krankheitserreger treffen, geben sie Zellgifte ab, wie Sauerstoffradikale, Cytokine (Botenstoffe des Immunsystems) und Enzyme (Proteasen), um sie zu zerstören. Dieser Abwehrprozeß läuft streng kontrolliert ab: Die Stoffe werden nur minimal dosiert, um dem Hirngewebe nicht zu schaden. Sind Mikroglia-Zellen aber ständig aktiviert, geben sie zuviel Giftstoffe ab. Die Folge: die Nervenzellen nehmen Schaden. Neurowissenschaftler vermuten deshalb, daß eine gestörte Kontrolle der Mikroglia-Zellen auch für die Entstehung einer Reihe von Erkrankungen, wie Alzheimer-Krankheit, Down-Syndrom, Multipler Sklerose, Parkinson, Demenz bei Aids sowie Schlaganfall mitverantwortlich sein könnte.

So lösen offenbar die Eiweißablagerungen (Plaques), das sogenannte Beta-Amyloid, im Gehirn von Alzheimer-Patienten die Aktivierung von Mikrogliazellen aus und regen sie zur Produktion von Zellgiften an. Möglicherweise tragen die Mikroglia-Zellen sogar selbst zur Produktion dieser Plaques bei, da sie unter bestimmten Umständen das Vorläuferprotein des Beta-Amyloid herstellen. Ein Teufelskreis - je mehr Beta-Amyloid entsteht, desto aktiver werden die Mikroglia-Zellen. Die Folge - die Nervenzellen sterben ab. Ähnliche Vorgänge werden auch für das Erbleiden Down-Syndrom (Mongolismus) vermutet. Die Plaques bilden sich hier schon bei jungen Patienten.

Auch bei Multipler Sklerose, der Parkinson-Krankheit und bei Aids-Patienten mit Demenz (geistiger Verfall) deuten vorläufige Ergebnisse auf die Beteiligung von Mikroglia-Zellen hin. Weiter gibt es Hinweise, daß sich Mikroglia-Zellen mit zunehmendem Alter verändern und immer öfter hochaktiv sind und Nervenzellen zerstören.

Möglicherweise verlieren auch Schlaganfall-Patienten Nervenzellen durch überaktive Mikroglia-Zellen. Schon kurze Zeit nach einer Durchblutungsstörung im Gehirn wandern sie in die betroffene Region. Neurowissenschaftler vermuten, daß die Mikrogliazellen geschädigte Nervenzellen schützen, indem sie Wachstumsfaktoren ausschütten, die eventuelle Schädigungen beheben sollen. Womöglich werden die Mikroglia aber so stark aktiviert, daß sie noch lebende Nervenzellen zerstören.

Noch sind dies in den meisten Fällen Hypothesen. Sollte sich jedoch herausstellen, daß bestimmte Nervenleiden tatsächlich durch überaktive Mikrogliazellen verursacht werden, könnten sich auf diesen Erkenntnissen aufbauend, Therapien entwickeln lassen. Schon jetzt suchen Wissenschaftler nach Stoffen, mit denen sie die Aktivität der Mikroglia-Zellen hemmen und damit die Produktion von Zellgiften blockieren können. Mit Alzheimer-Patienten werden bereits Studien mit Substanzen durchgeführt, die aktivierte Mikroglia-Zellen in ihren Ruhezustand zurückführen können.

 

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