Matthias Selbach

Der Proteinfahnder

Das Leben basiert auf Proteinen. Der Biologe Matthias Selbach nutzt die Methode der Massenspektrometrie, um die vielfältigen Funktionen der Eiweiße zu verstehen und systematisch nach solchen zu fahnden, die Krankheiten verursachen – oder vermeiden können.

Man könnte sich Matthias Selbach als jemanden vorstellen, der in den Prozessen des Lebens nach Proteinen fahndet und genauer unter die Lupe nimmt, was ihm auffällig vorkommt. Denn Proteine beeinflussen Gesundheit und Krankheit. So kann ein einzelnes Protein namens M1 darüber mitentscheiden, ob ein Vogelgrippevirus von Wasservögeln auf den Menschen überspringen und womöglich eine Pandemie auslösen könnte – oder auch nicht.

Selbachs bevorzugte Fahndungsmethode ist die Massenspektrometrie. Massenspektrometer sind so etwas wie Waagen, die Proteine und andere Biomoleküle über ihre Masse bestimmen, also über ihr Gewicht. Das Ergebnis dieser Messungen sind lange Zahlenlisten, die Aufschluss darüber geben können, wie häufig Proteine in einer Probe vorkommen, wie sie interagieren, neu entstehen oder zerfallen. „Die Massenspektrometrie ist das Schweizer Taschenmesser der biomedizinische Forschung“, sagt Selbach, der am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) die Arbeitsgruppe „Proteom-Dynamik“ leitet und sich der Erfassung der Gesamtheit aller Proteine, ihrer Funktionen und ihres Zusammenspiels im menschlichen Körper verschrieben hat, der Proteomik. „Wir finden immer wieder neue Anwendungen.“

„Man weiß nie, was man finden wird“ 

Selbach schaut nicht nur nach den üblichen Verdächtigen, vielmehr fahndet er systematisch nach einem unbekannten Täter, den es zu überführen gilt. Dafür durchforstet sein Team Tausende möglicher Eiweiß-Kandidaten. „Es ist unglaublich spannend, wenn man zum ersten Mal in die Daten aus dem Massenspektrometer schaut, weil man nie weiß, was man finden wird“, sagt er. Die Präzision dieser Technik beflügelt ihn, immer neue Fragen an sie zu richten.

So war es auch bei dem M1-Protein. Der Doktorand Boris Bogdanow aus seiner Arbeitsgruppe hatte menschliche Zellen mit dem Vogelgrippevirus infiziert und andere mit einem humanen Grippevirus. In den Proben suchte Selbachs Team nach auffälligen Proteinen – und fand M1. Eine Aufgabe von M1 ist es, Viren-RNA aus dem Zellkern zu schleusen, wodurch neue Viren erst entstehen können. „Das Vogelgrippevirus kann offenbar weniger M1 herstellen als humane Grippeviren. Das trägt dazu bei, dass es sich in menschlichen Zellen nicht vernünftig vermehren kann“, erklärt Selbach. Ein wichtiger Verdächtiger war überführt.

Das Unerwartete zog Matthias Selbach früh in seinen Bann. Auf Norderney, wo er aufwuchs, führte er schon im Grundschulalter Experimente mit ungewissem Ausgang durch. Er entzündete erloschene Kerzen an ihrem Qualm oder drehte mit Papier abgedeckte Gläser um, ohne, dass sie ausliefen. Zunehmend beschäftigte ihn auch, warum all diese Dinge passierten. Er verschlang naturwissenschaftliche Bücher, entschied sich nach dem Abitur für ein Biologie-Studium und nach dem Studium für eine Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin. Dort erforschte er, wie das Bakterium Helicobacter pylori mit einer Art molekularer Spritze ein Protein in menschliche Wirtszellen injiziert und damit die Funktion zelleigener Eiweiße stört.

Die Rolle von MicroRNA bei der Proteinentstehung

Doch zunehmend zweifelte Selbach am Sinn hypothesengetriebener Forschung. „Man stellt irgendeine Vermutung auf und oft kommt heraus: So ist es überhaupt nicht. Das ist, als würde man ziellos herumstochern und beliebig mal diesen und mal jenen Stein umdrehen“, sagt er. „Ich wollte einen Weg finden, um einen systematischen Überblick zu bekommen.“ Dieser Weg war die Massenspektrometrie. Er ging an die Süddänische Universität in Odense zu dem Physiker und Biochemiker Professor Matthias Mann, der die Technik entscheidend mitgeprägt hat, und stürzte sich als Postdoktorand kopfüber in das Feld der Proteomik.

Als er 2007 ans MDC kam, brachte er so eine doppelte Expertise mit – und legte den Fokus fortan auf die Methode, um ein möglichst breites Feld biologischer Fragen zu durchdringen. Sogleich stellte er sich dem ersten unerwarteten Thema: microRNA.

Mir ist eine Methode eingefallen, mit der wir das systematisch messen konnten, was vor uns noch niemand gemacht hatte.
Matthias Selbach
Matthias Selbach Leiter der AG "Proteom-Dynamik"

Die Ribonukleinsäure-Moleküle steuern die Aktivität der Gene in den Zellen und sind vielversprechende Kandidaten für zukünftige Therapien. Gemeinsam mit dem Systembiologen Professor Nikolaus Rajewsky gelang es ihm, die Rolle von microRNA für die Produktion von Proteinen zu entschlüsseln. „Mir ist eine Methode eingefallen, mit der wir das systematisch messen konnten, was vor uns noch niemand gemacht hatte“, erzählt Selbach. Es stellte sich heraus, dass eine einzige microRNA die Entstehung von hunderten Proteinen steuern kann. „Die Geschichte der Forschung zeigt, dass solche grundlegenden Ergebnisse oft zu unerwarteten Einsichten führen, die wiederum von klinischem Nutzen sein können.“

Während er für dieses Projekt noch selbst mit im Labor stand, ist der Schreibtisch mittlerweile zu seinem Hauptarbeitsplatz geworden. Seine Arbeitsgruppe umfasst zwölf junge Wissenschaftler*innen, die eigenständige Projekte verfolgen. „Ich verstehe mich als Coach, der ihnen zur Seite steht. Aber am glücklichsten bin ich, wenn sie so tief drinstecken, dass sie mich überzeugen, dass es Quatsch ist, was ich ihnen erzähle“, sagt Selbach, der seit 2014 auch Professor an der Charité – Universitätsmedizin Berlin ist. Am MDC engagiert er sich zudem als Ombudsmann und berät Doktorand*innen bei Konflikten.

Wie Protein-Interaktionen seltene Krankheiten verursachen

Die abstrakten Zahlen aus dem Massenspektrometer führten 2018 zu einer realen Patientin. Eigentlich war Selbachs Doktorandin Katrina Meyer mit dem Ziel gestartet, zu verstehen, wie Mutationen in Proteinen deren Funktion verändern – und warum sie Erbkrankheiten verursachen. Dafür erzeugte sie mehr als 100 gesunde Peptide und solche, die durch krankheitsauslösende Mutationen verändert waren, und fahndete nach Interaktionen mit anderen Eiweißen.

Bei dem Protein GLUT1 bemerkte sie eine durch die Mutation verstärkte Interaktion mit dem Protein Clathrin. GLUT1 ist dafür bekannt, dass es Zucker ins Gehirn transportiert und eine Fehlfunktion eine seltene Krankheit auslöst: das GLUT1-Defizienz-Syndrom. Betroffene leiden an epileptischen Anfällen. Meyer stellte fest, dass die vermehrte Bindung an Clathrin dazu führt, dass sich GLUT1 von seiner üblichen Position in der Zellmembran ins Zellinnere verlagert und dort seine Aufgabe als Zuckertransporteur nicht mehr wahrnehmen kann.

Die Doktorandin spürte eine Patientin in den USA auf, die genau diese Mutation in sich trug. „Die Mutter schickte uns Fotos und wir erfuhren, wie es dem Mädchen geht. Das war schon eine besondere Erfahrung“, erinnert sich Selbach. Die Ergebnisse lassen darauf hoffen, dass ein für Diabetes zugelassenes Medikament dieser Patientin helfen könnte. Und auch für andere Erkrankungen könnte der in GLUT1 gefundene Mechanismus eine Rolle in der Therapieentwicklung spielen.

Ein Berliner Forschungskern der Massenspektrometrie

Am MDC war Selbach einer der ersten, der das Potenzial der Massenspektrometrie für die biomedizinische Forschung nutzte. Mittlerweile hat sich hier ein Kompetenzzentrum für Proteomik entwickelt. Fünf Hochleistungs-Massenspektrometer laufen Tag und Nacht – und sie werden immer schneller und sensitiver. „Am Anfang haben wir ein paar wenige Proteine pro Minute identifiziert, heute sehen wir mehr als eines pro Sekunde. Dadurch können wir das Netz immer weiter auswerfen“, sagt Selbach.

Unsere Beobachtung könnte den langwierigen Krankheitsverlauf bei manchen COVID19-Patienten erklären.
Matthias Selbach
Matthias Selbach Leiter der AG "Proteom-Dynamik"

Seit 2020 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung zudem einen Berliner Forschungskern, um das Potenzial der Massenspektrometrie stärker für die klinische Praxis zu nutzen. Neben dem MDC sind die Charité – Universitätsmedizin Berlin, die Humboldt Universität zu Berlin und das Max-Planck-Institut für molekulare Genetik beteiligt. Selbach ist einer der vier Koordinatoren.

In einem ersten Projekt durchforstete sein Team tausende Proteine, um zu verstehen, wie das Coronavirus SARS-CoV-2 mit Makrophagen interagiert, also mit den Fresszellen des menschlichen Immunsystems. In einem interdisziplinären Gemeinschaftsprojekt mit Forschenden an der Charité und anderen Standorten kam heraus, dass die Viren die Makrophagen dazu bringen, wie bei einer Wundheilung zu reagieren – und das auch innerhalb der Lunge, was den Sauerstoffaustausch beeinträchtigt. „Unsere Beobachtung könnte den langwierigen Krankheitsverlauf bei manchen COVID19-Patienten erklären“, sagt Selbach. Neben der Analyse von mRNA-Daten und anderen Methoden war die Massenspektrometrie ein entscheidendes Werkzeug, um die verantwortlichen Proteine zu überführen – und eine weitere unerwartete Beobachtung zu machen.

Text: Mirco Lomoth

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