Nikolaus Rajewsky am Klavier

Der Visionär

Nikolaus Rajewsky will Krankheiten bereits erkennen, wenn sie in den Zellen entstehen und sie bekämpfen, bevor sie Schaden anrichten. Um der zellbasierten Medizin in Berlin und in Europa zum Durchbruch zu verhelfen, knüpft der Systembiologe Netzwerke auf allen Ebenen.

Er legt ein altes Buch auf den Tisch, der Einband an den Rändern angeschlagen, die Seiten von Feuchtigkeit und Mikroben mit Stockflecken übersäht. „Cellularpathologie“ steht in feiner Serifenschrift auf der ersten Seite: 20 Vorlesungen, gehalten 1858 von Rudolf Virchow im „pathologischen Institute zu Berlin“. „Virchow hat darin die Theorie aufgestellt, dass man verstehen muss, was in den Zellen vorgeht, wenn sie krank werden, um menschliche Krankheiten heilen zu können“, sagt Professor Nikolaus Rajewsky.

Die "Cellularpathologie“ fasst 20 Vorlesungen zusammen, die Rudolf Virchow 1858 gehalten hat.

Der Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) setzt sich an seinen Schreibtisch, überschlägt die Beine, streicht sich über den Hinterkopf und erzählt von seinen Ideen für die Medizin von Morgen, mit ruhiger Stimme und entschlossenem Blick. Hinter ihm hängt eine Urkunde der Ehrendoktorwürde der römischen Universität La Sapienza. Auf der Verleihung hat er Rachmaninows Suiten für zwei Klaviere gespielt. Rajewksy, der Pianist. „Wir haben jetzt die technischen Möglichkeiten, Virchows Traum Wirklichkeit werden zu lassen“, sagt er. „Auf einen Schlag können wir hunderttausende Zellen digitalisieren und erkennen, wie sie sich entwickeln und auf Nachbarzellen oder die Umwelt reagieren. Das wird die Medizin revolutionieren.“ Rajewsky, der Visionär.

Kern dieser Vision sind eine Reihe neuer Technologien, die es erlauben, die Vorgänge in einzelnen Zellen mit nie da gewesener Präzision zu verfolgen. Die Tiefe und Genauigkeit, mit der die Einzelzell-Techniken biologische Prozesse durchdringen, hat weitreichende Konsequenzen für die Grundlagenforschung und klinische Anwendung. Erstmals ist es möglich, die Entwicklung von Krankheiten auf der Ebene einzelner Zellen zu verfolgen, um diese früh wieder in Richtung Gesundheit zu steuern. Eine neue, zellbasierte Medizin entsteht.

Experimente an Mini-Gehirnen

Im Laufe ihres Lebens greift eine Zelle immer wieder auf Anweisungen zurück, die im Genom enthalten sind. Sie liest darin wie in einem Buch, um zu erfahren, wie sie auf äußere Einflüsse reagieren soll. Mit Einzelzell-Methoden können Forscher*innen sie dabei beobachten. Sie entnehmen Zellen aus dem Gewebe von Patient*innen und verpacken jede einzelne Zelle, tausende aus einer Probe, in kleine Tröpfchen, um zu beobachten, welche Gene sie gerade abliest und in Proteine übersetzt. Das Ergebnis sind riesige Datenmengen, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz ausgewertet werden.

Auf Virchow geht die Erkenntnis zurück, dass man die Vorgänge in den Zellen verstehen muss, um menschliche Krankheiten zu heilen. Jetzt gibt es die technischen Möglichkeiten dafür, sagt Nikolaus Rajewsky.

Und nicht nur das. Rajewsky und sein Team haben eine Methode entwickelt, mit der sie alle Zellen in einem Gewebeschnitt einzeln und gleichzeitig in den Blick nehmen und nach der Sequenzierung rekonstruieren können, wo sie im Gewebe saßen. „Damit gewinnen wir eine räumliche Karte der Genexpression und können sagen, welche Gene wo genau und in welcher Zelle ein- oder ausgeschaltet sind und welche Auswirkungen das hat“, sagt Rajewsky. Das funktioniert zum Beispiel in Hirn-Organoiden aus Stammzellen von Patient*innen. „Das sind lebendige Mini-Gehirne, deren Nervenzellen feuern. Das ist ein irrer Fortschritt, weil wir damit in menschlichen Nervenzellgewebe Experimente machen können.“ Am BIMSB haben sie diese Mini-Brains etwa mit Herpesviren infiziert, die im Verdacht stehen, Alzheimer zu beeinflussen. Mit Einzelzell-Techniken haben sie anschließend überprüft, welche Zellen tatsächlich infiziert werden und wie diese reagieren – ob sie sterben, sich verändern oder gesund bleiben. „Die riesige Komplexität der Interaktion muss man verstehen, um therapeutisch einzugreifen und die Zellen mit Medikamenten gezielt zu attackieren.“

Beethoven und stochastische Prozesse

Die Begeisterung für das Durchdenken der Welt hat Nikolaus Rajewsky schon früh aufgesogen. Sein Vater ist Immunologe, seine Mutter war Politikwissenschaftlerin. Schon mit 15 Jahren findet er Spaß daran, die Relativitätstheorie und Quantenphysik zu ergründen, sich in Zahlen und Formeln zu verlieren, Sinn in ihnen zu suchen. Er studiert Physik und Mathematik, entscheidet sich mit 23 Jahren zusätzlich zur Promotion in Physik für ein Klavierstudium – abends Beethoven, morgens stochastische Prozesse. „Wenn ich von einem müde war, hat mir das andere umso mehr Spaß gemacht“, erinnert er sich. Rajewsky, der Getriebene.

Klavierspielen ist für mich eine sehr schöne Weise, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen und auf das zu reagieren, was in der Welt vor sich geht.
Nikolaus Rajewsky
Nikolaus Rajewsky Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des MDC

Das Klavier begeistert ihn bis heute, ein Flügel steht im Konferenzsaal des Instituts, ein weiterer zu Hause; er spielt darauf, wenn es ihn überkommt, etwa um die Lebensfreude eines Rachmaninow am Morgen zu verspüren. „Klavierspielen ist für mich eine sehr schöne Weise, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen und auf das zu reagieren, was in der Welt vor sich geht.“

Auf die Kölner Zeit folgen Jahre in den USA, eine Postdoc-Stelle an einem Institut für statistische Physik, schließlich die Entscheidung, in die Biologie zu wechseln. „Ich habe aus reinem Interesse einen Sommerkurs ‚Biology for mathematicians‘ mitgemacht. Da kam zur Sprache, dass die Biologie gerade im Begriff ist, quantitativ zu werden und man die Abläufe des Lebens messen kann“, erinnert Rajewsky. „Ich dachte mir: was für ein tolles Abenteuer!“

Ohne Zögern bewirbt er sich an der Rockefeller University in New York, schließt seine Wissenslücken in der Biologie, arbeitet als einer der ersten mit digitalen Methoden an Bakterien, Fruchtfliegen und menschlichen Zellen. An der New York University wird er bald darauf Professor, forscht zur Funktion von microRNA bei der Genregulation – und wird mit seiner Arbeit weltbekannt.

In der Nähe der Wirkstätte Virchows

Als er 2006 ans MDC kommt, bringt er auch hier computergestützte Methoden mit Biochemie und Molekularbiologie zusammen. Sein Labor erforscht die Mechanismen der Genregulation, mit denen Zellen Entscheidungen treffen, insbesondere die Rolle von RNA in der Umsetzung genetischer Information. Mit aller Kraft setzt er sich für ein Institut ein, das den systembiologischen Ansatz in Berlin voranbringen soll. Es dauert Jahre, aber sein Plan geht auf: Er gründet das BIMSB und 2019 eröffnet Kanzlerin Angela Merkel ein Gebäude auf dem Campus Nord der Humboldt Universität, in das die BIMSB-Arbeitsgruppen einziehen. Ganz in der Nähe der Charité – und der ehemaligen Wirkstätte Rudolf Virchows.

Nikolaus Rajewsky

Es war auf einer Konferenz in Jerusalem 2015, als Rajewsky erkannte, dass wieder etwas Gewaltiges in der Medizin bevorstehen würde. „Israelische und amerikanische Forscher haben damals Einzelzelltechniken vorgestellt“, erinnert er sich. „Ich bin zurück in mein Labor und habe gesagt: Das müssen wir machen, sofort!“ Ein junger Biochemiker aus seinem Team bringt die Methode in nur einem Sommer zum Laufen. Rajewskys Arbeitsgruppe wird zu einer der ersten, die die neuen Einzelzell-Analysen in Europa anwendet – und weiterentwickelt. Sie sequenzieren die rund 6.000 Zellen eines Taufliegenembryos, setzen sie am Computer zu einem virtuellen Organismus zusammen, bei dem man Zelle für Zelle erkennen kann, welche Gene wo aktiv sind und wie sie die Zellen verändern. „Wir sind an einem Punkt, an dem uns Daten in einer solchen Präzision zur Verfügung stehen, dass wir anfangen können vorherzusagen, wie Zellen sich verändern werden“, sagt er. Das Magazin Science würdigt die Arbeiten als Teil des „Durchbruchs des Jahres“ 2018. 

Der Traum einer Zellklinik wird wahr

Rajewsky liebt es, wenn Menschen zusammentreffen, um gemeinsam etwas Neues zu schaffen. Das BIMSB etwa, der gemeinsame Schwerpunkt zur Einzelzellbiologie mit dem Berlin Institute of Health at Charité (BIH) oder die Berliner Zellklinik, ein neues Baby, das er vorantreibt. Sie soll Disziplinen und Institutionen vereinen, um mit Einzelzell-Techniken nach molekularen Zielen für therapeutische Ansätze zu suchen. Rajewsky hat unzählige Diskussionen mit Kolleg*innen und Politiker*innen geführt, ein Plädoyer im Tagesspiegel veröffentlicht. Und tatsächlich: Am 13. Oktober 2021, am 200. Geburtstag von Rudolf Virchow, stellen das MDC, die Charité – Universitätsmedizin Berlin, das BIH und die Technische Universität Berlin die Pläne zur Berliner Zellklinik der Öffentlichkeit vor.

Wir wollen mit der ‚interceptive cell-based medicine‘ die riesige Lücke zwischen klassischer Prävention und Symptombekämpfung schließen.
Nikolaus Rajewsky
Nikolaus Rajewsky Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des MDC

Und dann ist da noch das LifeTime-Konsortium. Er hat 90 Forschungsinstitute und mehr als 80 Unternehmen dafür gewonnen, den Einzelzell-Ansatz auf europäischer Ebene zu bündeln. Gemeinsam mit Geneviève Almouzni vom Pariser Institut Curie und über hundert weiteren Wissenschaftler*innen veröffentlichte er in „Nature“ die Vision einer zellbasierten Medizin, die es schaffen soll, Krankheiten abzufangen, lange bevor sie ausbrechen „Wir wollen mit der ‚interceptive cell-based medicine‘ die riesige Lücke zwischen klassischer Prävention und Symptombekämpfung schließen“, sagt Rajewsky, der Stratege.

Oder doch Rajewsky, der Forscher? „Am glücklichsten bin ich, wenn ich ins Labor gehen kann, um mit meinem Team über Daten zu sprechen“, sagt Rajewsky. Warum dann all der Einsatz für ein systembiologisches Institut? Für eine Zellklinik der Zukunft? Für ein europäisches Konsortium? „Das kommt wohl aus meiner Begeisterung dafür, Ideen umzusetzen“, sagt er, lacht kurz über seine Antwort und sammelt sich. „Nein, im Grunde geht es darum, Fortschritte in der Wissenschaft und Gesundheitsforschung zu erzielen und etwas zutiefst Menschliches zu tun: Kranken Menschen zu helfen.“

Text: Mirco Lomoth

 

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