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Entscheidung über Leben und Tod

Der programmierte Zelltod, die Apoptose, rafft täglich Milliarden von Zellen im menschlichen Körper dahin. Doch ohne ihn wäre Leben nicht möglich. Eine Studie, die ein Team um Klaus Rajewsky vom MDC jetzt im Fachblatt „Genes & Development“ veröffentlicht hat, hilft, zelluläre Überlebensstrategien besser zu verstehen.

Gemeinsam mit Forschenden aus vier weiteren MDC-Arbeitsgruppen untersuchten Labi und Rajewsky Mikro-RNAs.

Es ist eine Art Aufruf zum Suizid. Wird eine Zelle nicht mehr benötigt, schalten bestimmte zelluläre Signalwege ein Programm an, das die Selbstzerstörung der Zelle einleitet. Das kann in vielen Fällen sinnvoll sein. Zum Beispiel während der Embryonalentwicklung, wenn sich die Organe erstmals formen. Auch im Immunsystem, das sich regelmäßig erneuert, müssen schadhafte oder alte Zellen sterben, um Platz für neue zu schaffen. Zudem ist der programmierte Zelltod, Apoptose genannt, ein ziemlich guter Schutz vor Krebs. Mutierte oder bereits entartete Zellen können mit seiner Hilfe meist eliminiert werden.

Das Bim-Protein treibt die Zelle in den Suizid

Wir haben in Experimenten im Mausmodell erforscht, wie winzige RNA-Abschnitte, sogenannte Mikro-RNAs, die Konzentration von Bim in der Zelle regulieren.
Verena Labi
Dr. Verena Labi Ehemalige Postdoc in der AG von Klaus Rajewsky

Gesteuert wird die Apoptose durch verschiedene Gene. Bekannt ist vor allem das Gen, welches das Protein Bcl-2 kodiert, den Prototyp der gleichnamigen Proteinfamilie. Eine hohe Konzentration von Bcl-2 schützt die Zelle vor dem Suizid. Ein Gegenspieler dieses Moleküls ist das Protein Bim, das die Zelle in den Tod treibt. Auf dieses Protein hat sich das Team um Klaus Rajewsky, den Leiter der Arbeitsgruppe „Immunregulation und Krebs“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin in seiner jüngsten Studie konzentriert. Bim gehört ebenfalls zur Bcl-2-Familie und kommt in Säugetieren in fast allen Zellen des Körpers vor. 

„Wir haben in Experimenten im Mausmodell erforscht, wie winzige RNA-Abschnitte, sogenannte Mikro-RNAs, die Konzentration von Bim in der Zelle regulieren“, erläutert die Erstautorin der Studie und ehemalige Postdoktorandin in Rajewskys Team, Dr. Verena Labi vom Institut für Entwicklungsimmunologie der Medizinischen Universität Innsbruck. An der Publikation waren unter anderem noch vier weitere Arbeitsgruppen des MDC beteiligt: die von Professorin Carmen Birchmeier, Dr. Stefan Kempa, Professor Markus Landthaler und Professor Nikolaus Rajewsky.

Die Gruppe generierte Mäuse mit einem mutierten Bim-Gen 

Die untersuchten vier Mikro-RNAs unterscheiden sich in ihrer Nukleotid-Abfolge, werden aber gemeinsam von einem Gen namens miRNA-17~92 kodiert. „Schon vor unserer Studie war bekannt, dass diese Mikro-RNAs lebenswichtige Funktionen besitzen“, sagt Klaus Rajewsky. „Schaltet man sie bei Mäusen aus, sterben die Tiere während oder kurz nach der Geburt, weil sich ihre Lungen nicht richtig entfalten.“ Zudem weisen solche Mäuse eine Störung in der Entwicklung bestimmter Immunzellen, den B-Lymphozyten, und Skelettverformungen auf. Darüber hinaus weiß man, dass erhöhte Konzentrationen von Mikro-RNAs des miRNA-17~92-Gens in vielen Tumoren, insbesondere in B-Zell-Lymphomen, zum Tumorwachstum beitragen.

Für die aktuelle Arbeit hatten Rajewsky und sein Team zunächst mit bioinformatischen Methoden nach Genen gefahndet, an deren Proteinvorläufermoleküle, die Boten-RNAs, sich möglichst viele der miRNA-17~92-Mikro-RNAs aufgrund der passenden Abfolge der einzelnen Nukleotide anlagern können. Dabei waren die Forscherinnen und Forscher unter anderem auf das Bim-Gen gestoßen. In aufwändigen Experimenten züchtete die Gruppe im nächsten Schritt Mäuse, bei denen das Bim-Gen so verändert war, dass die Bim-Boten-RNA nicht mehr von den miRNA-17~92-Mikro-RNAs gebunden werden konnte. Mit diesem Modell wurde es möglich herauszufinden, ob und in welchen Körperzellen die Regulierung der Bim-Konzentration durch miRNA-17~92-Mikro-RNAs funktionelle Folgen hat.

Die meisten Mäuse starben kurz nach der Geburt

„Mäuse, bei denen das Bim-Gen bereits in der Keimbahn verändert ist, sterben aus den gleichen Gründen innerhalb etwa einer halben Stunde nach der Geburt wie diejenigen Tiere, bei denen der miRNA-17~92-Cluster stillgelegt ist“, berichtet Labi. „Ihre Lungenbläschen erweitern sich mit den ersten Atemzügen nicht.“

Vermutlich sind es die Lungenzellen selbst, die während der Lungenentwicklung im Embryo das Suizidprogramm starten.
Prof. Dr. Klaus Rajewsky
Klaus Rajewsky Gruppenleiter am MDC

Woran das genau liegt, wissen die Forscherinnen und Forscher noch nicht. „Vermutlich sind es die Lungenzellen selbst, die während der Lungenentwicklung im Embryo das Suizidprogramm starten“, spekuliert Rajewsky. „Die miRNA-17~92-Mikro-RNAs schützen diese Zellen vor einer ungeplanten Apoptose und erlauben so eine optimale Entwicklung des Lungengewebes im Embryo.“

Vereinzelt, in etwa 16 Prozent aller Fälle, überlebten die mutierten Mäuse jedoch. „Die Tiere blieben zwar etwas kleiner als gewöhnlich, doch ihre Lungen waren normal entwickelt“, sagt Rajewsky. 

B-Lymphozyten blieben von der Mutation unbeeinflusst 

Eine große Überraschung erlebten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, als sie mit B-Lymphozyten experimentierten, in denen sie das Bim-Gen so verändert hatten, dass es durch den miRNA-17~92-Cluster nicht mehr reguliert werden konnte. „Basierend auf der Fachliteratur hatten wir erwartet, dass das Überleben der B-Lymphozyten während ihrer Entwicklung im Knochenmark durch die Mutationen gestört wird – so wie wir es aus den Experimenten mit ausgeschalteten Mikro-RNAs kannten“, sagt Rajewsky.

Tatsächlich aber ließen sich die B-Lymphozyten, deren wichtigste Aufgabe die Produktion von Antikörpern und der Schutz des Körpers vor Krankheitsauslösern ist, durch das mutierte Bim-Gen in ihrer Entwicklung nicht stören. „Wie bei gewöhnlichen B-Lymphozyten wurden nur diejenigen Zellen per Apoptose eliminiert, die entweder gar nicht funktionierten oder sich versehentlich gegen körpereigene Strukturen richteten“, erläutert Labi.

Der Kontrollmechanismus ist nicht in allen Zelltypen gleich

Obwohl die miRNA-17~92-Mikro-RNAs in normalen B-Lymphozyten an die Bim-Boten-RNA binden können, scheint sich das demnach nicht auf die Menge des Bim-Proteins in diesen Zellen auszuwirken. „Eine wichtige Schlussfolgerung unserer Arbeit ist daher, dass sich die Kontrolle der Boten-RNA durch Mikro-RNAs zwischen verschiedenen Zelltypen und wahrscheinlich auch Boten-RNAs unterscheiden kann und daher auch für jedes Gewebe eigens untersucht werden sollte“, sagt Labi. 

Allerdings stellte sich bei den Untersuchungen heraus, dass auch B-Lymphozyten unter bestimmten Stresssituationen die Kontrolle von Bim durch die miRNA-17~92-Mikro-RNAs zum Überleben benötigen. „Folglich könnte dieser Mechanismus in noch vielen anderen Zusammenhängen für das Überleben von Zellen im Organismus eine Rolle spielen“, sagt Rajewsky. „Insbesondere da anscheinend noch eine Reihe anderer Mikro-RNAs Bim kontrollieren.“

Text: Anke Brodmerkel

Weiterführende Informationen

 

Literatur

Labi et. Al (2019): „Context-specific regulation of cell survival by a miRNA-controlled BIM rheostat“, Genes and Development, DOI:10.1101/gad.330134.119