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📺 Ermutigung nach 30 Jahren

Welche Verantwortung hat die Wissenschaft? Jens Reich spannte zum Jahrestag der Gründung des Neuen Forums den großen Bogen vom Aufbruch 1989 bis heute. Zum Auftakt der neuen BIMSB-Reihe „Breaking Boundaries“ sangen danach Wolf und Pamela Biermann - nur einen Steinwurf von der ehemaligen Wohnung des Liedermachers entfernt.

Das Cover der Platte lässt alle Welt in ein Ostberliner Wohnzimmer schauen. Auf dem Sekretär steht eine Schreibmaschine, auf einem der Sessel lehnt eine Gitarre und mittendrin sitzt Wolf Biermann in einem Ohrensessel. „Chausseestraße 131“ ist ihr Titel. Bis zu seiner Ausbürgerung im Jahr 1976 wohnte dort der Poet und Liedermacher, den die DDR für einen ihrer schlimmsten Staatsfeinde hielt und ununterbrochen observieren ließ. Seine Lieder konnte er nur dank eines geschmuggelten Aufnahmegeräts im Wohnzimmer festhalten, er hatte seit 1965 totales Publikations- und Auftrittsverbot.

Wir hatten hier heute wirklich einen großen Lyriker deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts zu Gast.
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Jens Reich Wissenschaftler und Bürgerrechtler

Nur einen Steinwurf entfernt, in der Hannoverschen Straße 28, steht heute ein neues Forschungsgebäude, der zweite Standort des MDC und das Zuhause für das Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB). „Nachbarschaftshilfe“ nannte Wolf Biermann denn auch das Konzert, das er und seine Frau Pamela Biermann am 9. September 2019 dort gaben. Sie singen an diesem Abend nur Lieder, die entstanden, als der Liedermacher in der Chausseestraße wohnte.

Auftakt für eine neue Veranstaltungsreihe

„Meine große Schwester hatte diese Platte, ich habe die Lieder nie vergessen“, sagte Professor Nikolaus Rajewsky, der Direktor des BIMSB. Als er die Idee für eine neue Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Breaking Boundaries – Bridging Science, Arts, Humanities, Politics, the Clinic and the Public“ hatte, war für ihn klar, dass sie mit zwei deutschen Legenden beginnen sollte: Wolf Biermann und Jens Reich.

Die rund 150 geladenen Gäste erwartete ein feinsinniger Abend über Vorsicht und Angst, Ermutigung und Mut, Trotz und Veränderungswillen, Verantwortung und Feigheit.

Genau 30 Jahre zuvor hatte Professor Jens Reich gemeinsam mit 29 anderen Dissidentinnen und Dissidenten den Gründungsaufruf des Neuen Forums unterzeichnet. „Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an einer Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des Neuen Forums zu werden. Die Zeit ist reif“, hieß es darin. „Die Historiker urteilen heute, dass der Aufruf ohne ausgearbeitetes Programm gewesen sei, politisch völlig naiv. Ja, das trifft vollkommen zu“, sagt Jens Reich in seiner Rede. „Gerade die Berufung auf unsere legalen Absichten und die Verfassung der DDR veranlasste Hunderttausende aus der bis dahin verdrossen schweigenden Mehrheit im ganzen Lande (...) sich der Bewegung des Normalbürgers im Mainstream anzuschließen.“ Der Protest auf den Straßen wurde erheblich durch die verbindende Wirkung des Neuen Forums getragen. Die Demonstration am 4. November in Berlin, wo unter anderen Jens Reich für das Neue Forum sprach, verwandelte den Alexanderplatz in ein Menschenmeer.

Private Nische

Und doch hadert Jens Reich mit sich. Fragt, ob ein entschlossener Protest wie in Polen die DDR-Existenz vielleicht fünf oder sogar zehn Jahre vorher beendet hätte. Zeichnet nach, wie auch er sich zunächst in einer privaten Gegenwelt eingerichtet hatte und das Wirken scheinbar furchtloser Dissidenten wie Wolf Biermann und den Chemiker Robert Havemann zwar mit großer Achtung, aber doch mit vorsichtigem Abstand beobachtete. Er habe sich – insbesondere als er eine Einladung von Robert Havemann in seinen von allen Seiten überwachten Bungalow in Grünheide ausschlug – aus pragmatischen Gründen seiner „Verantwortung als Wissenschaftler zu Wahrheit und Solidarität verweigert“.

Diese dunkle Angst

Um Mut zum Widerspruch oder doch lieber Rückzug in die Nische geht es auch Wolf und Pamela Biermann. „Jens, Du hast sehr tapfer darüber gesprochen, wie feige Du warst. Das schafft auch nicht jeder. Ich war mindestens so feige wie Du – ich hatte immer Angst, bin doch kein Idiot! Kann mir doch ausrechnen, was mir blüht!“, erwidert Biermann. Die eigentliche Frage sei doch: Wer hat wen? „Habe ich die Angst oder die Angst mich? Deshalb schrieb ich schon 1963 – also vor dem Verbot – ein Lied über diese dunkle Angst“. Sagte es und sang das Barlach-Lied von der Platte „Chausseestraße 131“. Danach folgte das „Selbstporträt für Rainer Kunze“ mit den Zeilen „Ach du, ach das ist dumm: Wer sich nicht in Gefahr begibt – der kommt drin um“.

Gleichwohl weiß auch Biermann um die Dilemmata des Protests. Er erinnert sich an ein Konzert in der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Eine Frau, ehemals in dem Stasigefängnis inhaftiert, hatte ihn angesprochen und erzählt, wie viel ihr Biermanns Lied „Ermutigung“ bedeutet. Sie habe es immer wieder in der Zelle gesungen. „Aber viele Menschen hat das Lied erst ins Gefängnis gebracht“, sagte Biermann.

Die Freitags-Schüler nicht allein lassen

Und heute? „Wir leben in einer völlig neuen Welt“, sagt Reich. Als Naturwissenschaftler könne er sich zu den wichtigen Fragen der Zukunft äußern. Trotzdem gehöre Entschlossenheit dazu – und es sei so einfach, den öffentlich hörbaren Kommentar anderen zu überlassen. „Wir sollten als Naturwissenschaftler die protestierenden Freitags-Schüler nicht allein lassen. (...) Es ist unsere Verantwortung, ohne hysterischen Alarm, aber auch ohne stille Resignation die gefährlich drohende Krise des Planeten darzustellen und Handlungen entwickeln zu helfen, wie man die Gefahr eindämmen kann. Das habe ich aus meinen Handlungen, aus meinen Fehlern gelernt. Dieses Mal dürfen wir nicht im Schneckenhaus sitzen bleiben und nachdenklich – besser wissend – abwarten, ob und wann die Krise des Planeten nicht mehr beherrschbar wird.“

Text: Jana Schlütter

Pamela Biermann

 

Geboren 1963, sie studierte Geschichte. Seit den 1980er Jahren arbeitet sie als Literatur- und Konzertagentin, seit den 1990er Jahren außerdem als Dozentin. 1996 Co-Regisseurin des Films „How to sing?“ über Jizchak Katzenelson. Ihre Gemälde wurden 2010 in Hamburg ausgestellt.

Als Sängerin trat sie erstmals 2012 im Berliner Ensemble in die Öffentlichkeit. Zusammen mit Wolf Biermann folgten zahlreiche Konzerte in Deutschland, der Schweiz und Österreich. CD-Veröffentlichungen: „Ach, die erste Liebe“ (2013) und gemeinsam mit der Jazzgruppe ZentralQuartett „… paar eckige Runden drehn!“ (2016). Im Jahr

2017 gingen Pamela Biermann & Wolf Biermann gemeinsam mit dem Neuen ZentralQuartett auf Tournee, um für eine hohe Wahlbeteiligung zu werben und die Demokratie zu stärken.

Pamela Biermann ist Gründungsmitglied von Schotstek, einem von freiwilligen Helfern getragenen Stipendienprogramm, das begabte migrantische Studierende fördert.Sie hat drei Kinder mit Wolf Biermann und lebt in Hamburg. 

Wolf Biermann

 

Der deutsch-deutsche Poet, Liedermacher und ehemalige ostdeutsche Dissident Wolf Biermann wurde 1936 geboren. Sein Vater, ein jüdisches Mitglied des deutschen Widerstands, wurde vom Naziregime inhaftiert und 1943 ermordet.

Biermann studierte Wirtschaft, Philosophie und Mathematik in Ost-Berlin. Dort wurde er Regieschüler in Bertolt Brechts „Berliner Ensemble“ und begann, seinen politischen Aktivismus in Theater, Musik und Lyrik zu kanalisieren.

Ab November 1965 totales Verbot aller seiner Arbeiten. Er durfte nicht reisen, auftreten und publizieren, er wurde ständig von der Staatssicherheit überwacht. Wolf Biermann wurde einer der radikalsten Kritiker gegen die Parteidiktatur der DDR. Er publizierte seine Werke in Westdeutschland, indem sie über die Grenze – die Berliner Mauer – geschmuggelt wurden.

Nach einem elfjährigen Verbot wurde Biermann 1976 ausgebürgert, was auch international breiten Protest provozierte.

Wolf Biermann wurde mit allen großen deutschen Literaturpreisen ausgezeichnet. Seine Gedichtbände sind unter den meistverkauften der deutschen Nachkriegsliteratur. 2016 publizierte Biermann seine Autobiographie „Warte nicht auf bessre Zeiten!“; er gibt immer noch Konzerte und Lesungen in ganz Deutschland und darüber hinaus. Bekannt ist er auch durch seine scharfzüngigen Essays, mit denen er sich provokant in die Tagespolitik einmischt. 

Jens Reich

 

Der Arzt, Molekularbiologe und Bioethiker Professor Jens Reich arbeitet seit 1968 auf dem Campus Buch. Seine Geradlinigkeit, seine klare Analyse und seine Menschlichkeit sind für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MDC ein Vorbild. Ethische Grundsätze prägen sein Tun. So ist er noch heute Ombudsmann am MDC und steht Forscherinnen und Forschern in Konfliktsituationen zur Seite. Er begleitet den Tierschutz und fördert die Auseinandersetzung mit bioethischen Fragen.

Jens Reich gehört zu den bekanntesten Bürgerrechtlern der DDR, unter anderem als Mitbegründer des „Neuen Forums“. Die Vorbereitungen zur Wiedervereinigung erlebte er als Abgeordneter des einzigen frei gewählten Parlaments der DDR. 1994 kandidierte er für das Amt des Bundespräsidenten; von 2001 bis 2012 war er Mitglied im Deutschen Ethikrat.

Am MDC leitete er von 1992 bis zu seiner Emeritierung 2004 eine Gruppe in der medizinischen Genomforschung. Für sein wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Engagement wurde er mehrfach geehrt.

Über „Breaking Boundaries“

 

In der Veranstaltungsreihe „Breaking Boundaries“ geht es um das Aufbrechen der Grenzen zwischen Wissenschaft, Medizin, Kunst, Politik und Öffentlichkeit. Nikolaus Rajewsky, wissenschaftlicher Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie (BIMSB) hat sie konzipiert. Auch das wissenschaftliche Motto des BIMSB ist „Breaking Boundaries“ – Grenzen überschreiten.