Nicht im Schneckenhaus sitzen
Riesig und leer lag der Potsdamer Platz vor ihnen. Die S-Bahnen hielten nicht mehr, auch die U-Bahn-Station war geschlossen. Bereits an diesem Vormittag des 13. August 1961 markierten das aufgerissene Pflaster und aufgeschüttete Wälle eine Linie, wo kurze Zeit später die Mauer Ost- und West-Berlin trennen würde. Jens Reich und ein Freund berieten, was sie tun sollten. Abhauen, irgendwo seitlich, über die Schrebergärten? Alle zurücklassen? Nein, die persönlichen Bindungen waren zu wichtig. „Diese Sperre kann ja nicht ewig dauern“, beruhigten sie sich.
Sie dauerte und sie prägte das Leben des Arztes, Molekularbiologen und Bioethikers Jens Reich. Er gehört zu den bekanntesten Bürgerrechtlern der DDR, unter anderem als Mitbegründer des „Neuen Forums“.
- Jens Reich – Stationen eines Lebens
Geboren am 26. März 1939 in Göttingen als Sohn eines Arztes und einer Heilgymnastin, aufgewachsen in Halberstadt.
1956 – 1962:
Studium der Medizin und Molekularbiologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, anschließend Assistenzarzt am Salvator-Krankenhaus in Halberstadt.1964 – 1968:
Fachausbildung Biochemie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, ab 1964 forscht er dort.1964:
Promotion in Humanmedizin (Dr. med.) an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1976 zum Dr. sc.1968 – 1990:
Wissenschaftler am Zentralinstitut für Molekularbiologie (ZIM) der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch1969/1970:
Mitbegründer des Freitagskreises, in dem rund 30 junge Akademikerinnen und Akademiker über Kultur, Philosophie und Literatur diskutierten.
Unter DDR-Bedingungen wurden die Treffen bald politisch und systemkritisch. Später waren viele von ihnen Oppositionelle. Der Kreis wird seit den 1980-er Jahren systematisch vom Ministerium für Staatssicherheit abgehört.1974/75 und 1979/80:
Forschungsaufenthalte am Institut für Biophysik der Akademie der Wissenschaften in Puschtschino bei Moskau / Sowjetunion1980:
Professor für Biomathematik und Abteilungsleiter im ZIM1984:
Wegen seines kritischen Einsatzes für Freiheit und Bürgerrechte wird seine Arbeitsgruppe aufgelöst und er zum wissenschaftlichen Mitarbeiter zurückgestuft. Er weigert sich, Kontakte zu Bundesbürger*innen abzubrechen und in eine der Blockparteien einzutreten. Reiseverbot in westliche Länder.ab 1985:
Mitarbeit in oppositionellen Zirkeln und Gruppen wie in der Gethsemanekirche, in der Umwelt-Bibliothek und im Kreis
„Ärzte in sozialer Verantwortung“1988:
Veröffentlichung von kritischen Analysen der DDR in der Zeitschrift „Lettre International“ unter dem Pseudonym „Thomas Asperger“1989:
September: Ko-Autor des Aufrufs „Aufbruch 89 – Neues Forum“ und Gründungsmitglied des Neuen Forums4. November:
Rede auf dem Alexanderplatz1990:
März bis Oktober: Mitglied der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR in der Fraktion Bündnis 90 / Die GrünenOktober bis Dezember:
Abgeordneter des Deutschen Bundestags1990-1992:
Vorsitzender der DDR-Sektion „Ärzte zur Verhinderung eines Nuklearkrieges“ (IPPNW)1991:
Theodor-Heuss-Preis, stellvertretend für viele Bürgerrechtler*innen in der DDR1991 – 1992:
Gastprofessuren an der Universität Harvard und am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg1992 – 2004:
Leiter der Abteilung Bioinformatik des Max Delbrück Center1993:
Anna-Krüger-Preis für verständliche Wissenschaftssprachebis 2011:
Koordination eines systembiologischen Forschungsverbundprojektes des Max Delbrück Center mit dem EMBL und der Universität Heidelberg1994:
auf Vorschlag der Grünen unabhängiger Kandidat zur Wahl des Bundespräsidenten
Mitarbeit am Deutschen Humangenomprojekt1996:
Lorenz-Oken-Medaille der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte1997:
Gründungsmitglied des „Willy-Brandt-Kreises“ in Berlin, der von Günter Grass und Egon Bahr initiiert wird1998:
Urania-Medaille1998 – 2004:
Professor der Humboldt-Universität zu Berlin2000:
Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung2001 – 2012:
Mitglied im Nationalen Ethikrat, später des Deutschen Ethikrates2009:
Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Preis der Leopoldina und des Stifterverbandes; Schillerpreis der Stadt Marbachbis 2022:
Ombudsmann für Gute wissenschaftliche Praxis am Max Delbrück CenterMitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
seit 1962 verheiratet mit der Ärztin Dr. Eva Reich, zwei Töchter, ein Sohn, zahlreiche Enkelkinder
Wie ein Vogel im Bauer
Mit 17 Jahren kam Jens Reich als Medizinstudent aus Halberstadt an die Humboldt-Universität zu Berlin: Über die offenen Sektorengrenzen hinaus lernte er die Wissenschaft und Kultur in beiden Systemen kennen. Inszenierungen von Gustaf Gründgens, Bert Brecht und Walter Felsenstein, Französischkurse im Maison de France und Vorlesungszyklen von Robert Havemann. Nach dem Bau der Mauer jedoch fühlte er sich wie ein „Vogel im Bauer“. Wie fest der Käfig verriegelt war, zeigte das Jahr 1966. Als ihm ein Max-Planck-Institut ein halbjähriges Forschungsstipendium im Westen anbot, wurde er ins Dekanat zitiert. Herablassend lehnte der Parteisekretär das Ansinnen ab. Reich durfte nicht einmal antworten.
Er schaffte sich eigene Freiräume. 1968 wechselte er an das neu gegründete Rechenzentrum am Zentralinstitut für Molekularbiologie (ZIM) der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch. Weil in der experimentellen Biochemie die Materialien fehlten, wandte er sich der Theorie zu und entwickelte mathematische Modelle für den Energiestoffwechsel lebender Zellen. Dem „lahmen, trüben Alltag“ in der DDR entfloh er seit 1969/70 über den Freitagskreis. Etwa 30 junge Akademikerinnen und Akademiker trafen sich jede Woche, um über Kultur, Philosophie und Literatur zu streiten. Die Diskussionen wurden bald politisch. Später waren viele von ihnen Oppositionelle.
Thermoskannen voller Quecksilber
Die Akademie der Wissenschaften in Buch blieb lange eine rettende Nische. „Der Blick auf die Welt war noch vorhanden“, sagt Jens Reich. Doch nur Reisekader hatten das Privileg, ihre Ideen der Welt vorzustellen. Und als der Westen biologische Systeme mit immer schnelleren Rechnern und größeren Speichern modellierte statt mit Differentialgleichungen, riss das geistige Band zwischen Ost und West. „Unsere Forschung war zwangsläufig brave Kleingärtnerei“, sagt Jens Reich. Die fehlende Freiheit quälte ihn, trotz privater Gegenwelt. Warum ist er in der DDR geblieben? „Ich bin so ein Mensch ... mich hätte man raustreiben müssen.“
Mit dem drohenden ökonomischen und ökologischen Kollaps der Sowjetunion und des Ostblocks beschäftigte sich Jens Reich seit den Forschungsaufenthalten am Institut für Biophysik der Akademie der Wissenschaften in Puschtschino bei Moskau in den siebziger Jahren. „Das Tal der Oka, eines riesigen Flusses, verkam zu einer Müllkippe. Als die Kinder dort im Wald spielten, kamen sie mit Thermoskannen voller Quecksilber wieder“, erinnert er sich. Etwa zur gleichen Zeit verwandelte sich der Aralsee allmählich in eine Steppe, besetzte die Sowjetarmee Afghanistan und alle redeten von Zinksärgen. „Es war offensichtlich, dass dieses Land in eine Katastrophe steuert.“
Die Jugend lief weg
Es blieben enge Freundschaften in die Sowjetunion, nach Ungarn, in die Tschechoslowakei und nach Polen. „Die Dissidenten der Solidarność-Bewegung haben auf dem Weg in den Westen in unserer Wohnung übernachtet“, erzählt Jens Reich. Es reichte nicht mehr, brav die eigene Wissenschaft zu betreiben und Reformen nur herbeizusehnen – das machten ihm die intensiven Diskussionen bewusst.
Reich wollte Veränderungen anstoßen, sprach zum Beispiel in der Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg über die ökologische Krise in der DDR und die Militarisierung der Schulerziehung. Der Stasi blieb das nicht verborgen. 1984 wurde seine Arbeitsgruppe in Buch aufgelöst und er zum wissenschaftlichen Mitarbeiter zurückgestuft. „Sie dachten, sie könnten mich so disziplinieren. Das Gegenteil war der Fall. Alles andere war ohnehin interessanter und lebendiger“, sagt er. Erst recht als 1985 in Moskau Gorbatschow an die Macht kam.
Größer war die Angst, dass die eigene Familie auseinanderbrechen könnte. Eine Tochter war bereits ausgereist, die beiden anderen Kinder wollten ebenfalls nicht leben wie die Eltern. „Ein Land, dem die Jugend wegläuft, hat eine trübe Zukunft“, sagt er. Darauf bezieht sich der Gründungsaufrufes „Aufbruch 89 – Neues Forum“: „In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen dieses Ausmaßes sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein.“ Jens Reich war einer der Ko-Autoren und Erst-Unterzeichner.
Die Verfassung beim Wort genommen
Statt „schweigend und mit eingezogenen Fühlern im Schneckenhaus zu sitzen“, nahmen seine Mitstreiterinnen am 19. September 1989 die Verfassung der DDR beim Wort. Bärbel Bohley und Jutta Seidel stellten einen Antrag auf Zulassung nach dem Vereinsgesetz. Die Anträge wurden bis in den November abgeschmettert. Aber bis Ende des Jahres hatten 200.000 Menschen den Aufruf unterschrieben. Die Forderung, das Neue Forum zuzulassen, gehörte zu den Losungen bei den landesweiten Demonstrationen. „Gerade die naive Berufung auf unsere legalen Absichten veranlasste Hunderttausende aus der bis dahin verdrossen schweigenden Mehrheit im ganzen Lande, sich der Bewegung des „Normalbürgers“ anzuschließen und die waffenstarrende Machtstruktur zum Kollaps zu bringen“, sagt Jens Reich.
Am 4. November 1989 stand er für das Neue Forum auf einer Lastwagenpritsche auf dem Alexanderplatz und blickte beklommen auf einen kantigen Menschenbrei. Es war alles auf den Beinen, was laufen konnte. Zu Hunderttausenden, völlig frei von Angst. „Am Straßenrand hat sogar eine Pantomimengruppe Politbüro gespielt und gerontokratisch gewunken“, sagt Reich. Nur er bekam als Redner von der fröhlichen Stimmung zunächst wenig mit. „Vorne stand bestellte Stasi. Die machten hässliche Zwischenrufe und erzeugten einem so einen Strumpf auf dem Herzen.“
Eine völlig neue Welt
Die gewaltfreie Revolution von 1989 war das zweite einschneidende Erlebnis im Leben von Jens Reich. Die Vorbereitungen zur Wiedervereinigung erlebte er als Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen in der einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR. Nach einem Jahr ging er – abgesehen von einer unabhängigen Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten – von der Politik zurück in die Forschung und gestaltete einen weiteren Umbruch mit: die Entzifferung des menschlichen Erbguts im Humangenomprojekt. Welche bioethischen Fragen damit verbunden sind, diskutierte er unter anderem von 2001 bis 2012 als Mitglied im Deutschen Ethikrat.
Am Max Delbrück Center leitete Jens Reich von 1992 bis zu seiner Emeritierung 2004 eine Gruppe in der medizinischen Genomforschung. Der Campus und das Zentrum waren der Mittelpunkt seiner beruflichen Laufbahn. Hier hat er den Wandel beobachtet – von der abgeschlossenen Gemeinschaft, in der die Gruppen weitgehend miteinander alterten und der Klatsch blühte, hin zu einer Wissenschaft, die sich vor allem nach draußen orientiert. Bis 2022 sah man Jens Reich mehrmals in der Woche mit dicken Aktenordnern und Büchern über den Campus laufen. Er war Ombudsmann für Gute Wissenschaftliche Praxis, begleitete den Tierschutz und förderte Diskussionen zur Bioethik.
Und wie steht es heute? „Wir leben in einer völlig neuen Welt. Ich kann mich zu den wichtigen Fragen der Zukunft äußern. Jedenfalls gehe ich kein Risiko ein, verhaftet zu werden. Trotzdem gehört Entschlossenheit dazu“, sagt Jens Reich. Wo es auf die sorgfältig erworbene Kompetenz der Naturwissenschaft ankommt, dürfe man den politischen Kommentar nicht einfach anderen überlassen. „Es ist unsere Verantwortung, ohne hysterischen Alarm, aber auch ohne stille Resignation die gefährlich drohende Krise des Planeten darzustellen und Handlungen entwickeln zu helfen, wie man die Gefahr eindämmen kann.“
Text: Jana Schlütter
Eine Version dieses Textes erschien im März 2019, zum 80. Geburtstag von Jens Reich. Wir haben ihn aktualisiert und um Zitate aus einer Rede zum 30. Jahrestag der Gründung des Neuen Forums ergänzt.
Weiterführende Informationen
- Rede zum 30. Jahrestag der Gründung des Neuen Forums und einem Konzert mit Wolf Biermann, September 2019
- „Eine Erneuerung musste stattfinden“ (Interview zu 25 Jahren Max Delbrück Center)
- Die doppeldeutige Revolution
- Zeitzeugen: Jens Reich erinnert sich an den 4. November 1989