Was lesen Sie gerade, Frau Drakulic?
Wir kennen diese Geschichte, ihren faktischen Details und die Wissenschaft dahinter. Am 26. April 1986, um 1:23 Uhr, geriet der Stolz und Ruhm der sowjetischen Wissenschaft und Technologie, der Reaktorblock vier des Kernkraftwerks Tschernobyl in Prypjat, Ukraine, während eines Tests außer Kontrolle. Eine katastrophale Explosion setzte eine enorme Menge radioaktiver Isotope in die Atmosphäre frei. Das Ereignis und seine Konsequenzen sind gut erforscht und dokumentiert, sei es in der von öffentlichen Gesundheit oder der Umweltwissenschaften, der Wirtschaft oder auch der Ingenieurwissenschaft.
Was im Schatten dieser gewaltigen Geschichte über die wohl bedeutendste technologische Katastrophe des 20. Jahrhunderts jenseits von Studien, Berichten und Bewertungen geblieben ist, sind die Stimmen einfacher Menschen. Deren Leben hat sich von einem Moment auf den anderen schlagartig geändert.
Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch, belarussische Journalistin, Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin, nimmt uns in ihrem eindringlichen und kraftvollen Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ mit auf eine Reise durch Raum und Zeit. Sie taucht ein in die Erzählungen und Erinnerungen der Überlebenden der Tschernobyl-Katastrophe. Das Buch ist eine Komposition aus Hunderten von Interviews; die Erzählungen reichen von ehemaligen Beschäftigten des Kraftwerks, Ersthelfer*innen, Liquidatoren, Forschenden, medizinischem Personal, Soldaten, Vertriebenen bis hin zu denen, die in die Sperrzone zurückgekehrt sind. Menschen, deren Welt Tschernobyl war. „Sie erzählten ihre Geschichten, sie suchten nach Antworten.“
Alexijewitsch schreibt meisterhaft. Im Gegensatz zu manch durchkomponierten Sätzen, die kunstvolle Prosa oft kennzeichnen, liegt ihrer Virtuosität in der Einfachheit ihres Schreibens. Es macht ihre Geschichten authentisch, nachvollziehbar und lebendig. Wort für Wort, Bild für Bild, Erinnerung für Erinnerung bietet Alexijewitsch einen verstörenden und intimen Einblick in Schicksale, die sich nach der Katastrophe abzeichnen. „So lebe ich … Zugleich in der realen und in meiner irrealen Welt“, sagt eine Protagonistin. „Es ist nicht nur eine kontaminierte, unbewohnbare Gegend. Es ist eine verlorene Welt.“
Viele der Interviewten hatten es eilig, ihre Geschichte zu erzählen. Sie befürchteten, nicht viel Zeit zu haben. „Irgendjemand wird das lesen und einen Sinn darin finden. Später, lange nachdem wir gegangen sind. […] Achten Sie darauf, etwas mit diesem Wissen zu tun, setzen Sie es zu einem Zweck ein.“ Alexijewitsch hat diese Aufgabe angenommen: Sie überbrachte ihre Botschaft. Sie erzählte Geschichten gewöhnlicher Menschen, die über Nacht zu Überlebenden von Tschernobyl wurden. Eine mahnende Geschichte. Eine Ungeheuerlichkeit.
Das Buch übertrifft historische Werke, Berichte, Notizen und Beschreibungen. Durch sein Format der mündlich überlieferten Geschichte, der Volkschronik, malt es ein Bild persönlicher Tragödien, jede auf ihre eigene Weise herzzerreißend. Die Geschichte einer jungen Frau, die Tage und Nächte am Sterbebett ihres Mannes, eines Feuerwehrmanns, verbringt und dabei ihre eigene Gesundheit opfert. Wenn ein Mensch, den man liebt, zum verseuchten Objekt wird, ist dies eine Szene, gegen die „verblasst selbst Shakespeare. Und der große Dante“, schreibt Alexijewitsch.
Geschichten von älteren Menschen, die in ihre Häuser zurückkehrten, allein im Dunkeln saßen, Trost in Erinnerungen, ihren Gärten, Vögeln suchten. Geschichten von Militärpersonal, die Bilder des Krieges wiedererleben, für viele noch so frisch: Verzweifelte, die zurückkehren wollen zu ihren vergifteten Grundstücken, ihren Feldern; Kolonnen von Evakuierten, die Möbelstück, ein Foto, einen Erdklumpen, ein geliebtes Haustier, eine Erinnerung mitnehmen wollen. Bewaffnete Soldaten, die gezwungen sind, sie aufzuhalten. Geschichten von Liquidatoren, jenen Menschen, die unter Bedingungen arbeiteten, in denen Ausrüstung, die für den Einsatz im Weltraum konzipiert war, versagte. „Wir kämpften gegen einen Atomreaktor, bewaffnet mit Schaufeln.“ Waren sie die wahren Helden, oder waren sie Opfer sowjetischer Ideologien? Diese Menschen retteten nicht nur ihr Land; sie retteten ganz Europa. Und doch starben viele allein und vergessen.
„Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ dokumentiert die schieren Emotionen angesichts totaler Zerstörung, Chaos, Wahnsinn, eines verzweifelten Versuchs, gegen eine unvorstellbare Kraft zu kämpfen. Es ist das unheimliche Zeugnis von Angst, Hilflosigkeit, Isolation, Einsamkeit, Unsicherheit, Trauma, Krankheit, Tod. Aber gleichzeitig ist es eine Geschichte des Überlebens, der Entschlossenheit, der Loyalität und des Stolzes, der Gemeinschaft, der Solidarität und der Freundlichkeit - ein Zeugnis des Durchhaltevermögens und der Unzerstörbarkeit des menschlichen Geistes. „Wir haben alles überlebt, alles durchgestanden. […] Man kann nicht die ganze Zeit ängstlich sein, das kann ein Mensch nicht; die Zeit vergeht, und das normale menschliche Leben fängt wieder an."
Als Forschende sind wir es gewohnt, die Welt durch die Linse von Daten, Fakten und Vernunft zu betrachten. Wir sind darauf trainiert, emotionale und irrationale Dinge zu bekämpfen. Aber was passiert, wenn dies keinen Sinn mehr ergibt? Wenn die Welt, die wir kannten, verschwindet, wenn sich alles, was wir für richtig hielten, als falsch erweist? Heute, in den unsicheren Zeiten, die von einer Pandemie, Kriegen, Krisen, dem Wiederaufleben rechter Kräfte in Europa geprägt sind, steht „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ als Zeugnis für die Bedeutung des Erinnerns und Lernens aus vergangenen Tragödien. Eine Erinnerung daran, dass Sicherheit fragil ist und niemals als gegeben angesehen werden sollte.
Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Suhrkamp, 2019.