Ian Stewart

Was lesen Sie gerade, Herr Stewart?

Ian Erik Stewart ist Neurowissenschaftler und erforscht im Labor von James Poulet unter anderem die Körperwahrnehmung. In seinem Lesetipp widmet er sich zwei Büchern, die den Geheimnissen des Gehirns und des menschlichen Bewusstseins nachspüren. Und einen fantastischen Film empfiehlt er gleich mit.

Bevor ich dazu komme, was ich gerade lese, muss ich von einem Film zu erzählen, den ich kürzlich gesehen habe: „La Planète Sauvage“ (Der wilde Planet) ist ein Science-Fiction-Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1973, bei dem René Laloux Regie führte und den er zusammen mit Roland Topor schrieb. Er ist ein Kultklassiker, der bei den Filmfestspielen von Cannes den Preis der Jury gewann, und es ist auch 50 Jahre später noch ein erstaunlicher Film, den ich nie vergessen werde!

Die Menschen leben als mausgroße Tiere auf einem seltsamen Planeten, der von französischsprachigen blauen Außerirdischen bewohnt wird. Für diese Außerirdischen sind die Menschen Haustiere oder Schädlinge, ähnlich wie die Mäuse auf der Erde. Der Film folgt dem Leben eines einzelnen Menschen, der einer Änderung dieser Ordnung zum Opfer fällt.

Die surreale Animation ist wunderschön und in einem ähnlichen Stil gehalten wie Terry Gillams Arbeit in „Monty Python's Flying Circus“. Die handgezeichneten Szenen sind voller Farben und außerirdischer Formen – der Planet ist einfach fantastisch. Begleitet werden die Bilder von einem faszinierenden, jazzigen, funkigen Prog-Rock-Soundtrack, durch den selbst schockierende Szenen mit Elementen der Spannung und des Humors durchdrungen werden. Das Leben ist ein Kampf, vor allem für die Kleinen und Unterdrückten – aber ist es nicht auch von einem anderen Standpunkt aus (dem der Zuschauer*innen) faszinierend? Wenn die Musik stoppt und der Tod auf der Leinwand zu sehen ist, bekommt der Film jedoch eine erschreckende allegorische Botschaft.

Allegorisch, aber nicht all zu moralisierend. Er weckt Verständnis für die Unterdrücker, die nicht von Natur aus böse sind, denen aber die Perspektive fehlt. Schließlich kann es doch faszinierend sein, Tieren zuzusehen, wie sie herumlaufen, mit Spielzeug spielen, kämpfen, leben! Und in ihren politischen Entscheidungen folgen die Außerirdischen mit ihrem Speziesismus einer vernünftigen Schlussfolgerung aus einer sturen Denkweise. Ihr größter Fehler ist es, das Potenzial der Unterdrückten zu unterschätzen und sie geknechtet zu halten, anstatt dass sie ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung geben.

Das Herabschauen auf die tierischen Intelligenz ist ein weit verbreiteter Fehler in der Geschichte der Biologie und ist in unserem kulturellen und sozialen Hintergrund verankert. Um die Intelligenz der Tiere nicht zu unterschätzen, werde ich die Parabel von „La Planète Sauvage“ im Hinterkopf behalten. Nicht, dass es mir schwer fiele – die Bilder leben in meinem Kopf, eine Collage aus pfeifenden Kristallen, kopflos tanzenden Statuen, meditierenden Aliens und lachenden Pflanzen.

Bücher, Bücher, Bücher

Aber wenn Sie mich fragen, was ich gerade lese, dann muss ich im Plural antworten. Es handelt sich um populärwissenschaftliche Sachbücher. Gerade lese ich „The Consciousness Instinct: Unraveling the mystery of how the brain makes the mind“ von Michael S. Gazzaniga – ein gutes Beispiel dafür, wie ein populärwissenschaftliches Buch zum Spekulieren und eher beiläufigen Nachdenken über wissenschaftliche Themen anregen kann. Ich lese gerne etwas über die großen Ideen in der (Neuro-)Wissenschaft. Mich inspiriert das als Wissenschaftler, es regt meine Kreativität an.

Ich lerne auch gerne etwas über die Ideengeschichte in der Wissenschaft. Was dachten frühere Forscher*innen über die Geheimnisse des Universums, bevor wir wussten, was wir heute als selbstverständlich ansehen? In „The Consciousness Instinct“ beginnt Gazzaniga mit einem historischen Abriss, um das Feld für zeitgenössische Ideen zu bereiten. Ein weiteres sehr aufschlussreiches Buch ist Matthew Cobbs „The Idea of the Brain: The Past and Future of Neuroscience“. Cobb und Gazzaniga geben jeweils einen Überblick über die lange philosophische und wissenschaftliche Geschichte der Erforschung von Gehirn und Geist, die bis weit in eine Zeit zurückreicht, in der der Begriff Neurowissenschaft überhaupt noch nicht existierte. Dabei stellen sie den Prozess der Wissensentwicklung in einen Kontext und bewerten kritisch, welche Ideen überlebt haben und warum. Und welche neu überprüft werden müssen, bevor wir vergessen, dass sie auf Annahmen basierten.

Medien und Kunst – in filmischer oder schriftlicher Form – geben uns Perspektiven, die unser eigenes Denken erweitern. Ich glaube, wir sammeln in unseren Köpfen kleine Wegweiser aus Geschichten und der Geschichte, die ab und an auftauchen und uns Fragen stellen können. Die Bücher von Cobb und Gazzaniga stellen mir folgende Fragen: Welche Gespenster der Vergangenheit beeinflussen noch immer unser Denken? Und „La Planète Sauvage“ fragt mich: Inwiefern könnte ich die Intelligenz der Tiere oder allgemein die Wunder des biologischen Lebens unterschätzen?
 

René Laloux, and Alain Goraguer: La Planète Sauvage. France/ Czechoslovakia, 1973.

Matthew Cobb: The idea of the brain: The past and future of neuroscience. Profile books, 2021.

Michael S. Gazzaniga: The consciousness instinct: Unraveling the mystery of how the brain makes the mind. Farrar, Straus and Giroux, 2018.