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📺 „Wir dürfen die protestierenden Freitagsschüler nicht allein lassen!“

Genau 30 Jahre nach der Gründung des Neuen Forums ruft Jens Reich Forscherinnen und Forscher dazu auf, sich erneut in den politischen Diskurs einzumischen. Wir dokumentieren seine Rede. Sie und ein Konzert von Wolf und Pamela Biermann waren der Auftakt für die neue Veranstaltungsreihe „Breaking Boundaries“ am MDC Berlin-Mitte / BIMSB.

Wenn Sie auf den Hof dieses Neubaus gehen, sehen Sie zur rechten Hand das Gebäude, das von 1974 bis 1990 einer der Schauplätze des dornenreichen Weges zur deutschen Vereinigung wurde. In dem Gebäude war der Sitz der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR („Botschaft“ durfte es nicht heißen). Zum Schauplatz wurde es, weil im Laufe der Jahre immer wieder ausreise-entschlossene Bürger der DDR, Männer, Frauen und sogar Kinder, in das Innere eindrangen, wenn den Sicherheitskräften der DDR der vorherige Abfang nicht gelang. Ein Höhepunkt war die diplomatische Krise von 1984, als 55 DDR-Bürger das Gebäude besetzten und für viele Wochen nicht mehr verließen, sondern den Schutz für die Ausreise in den Westen zu erzwingen suchten. Später waren es noch einmal 130 ausreisewillige Bürger, alle mit dem Wunsch: „Ich will nicht hier bleiben, ich will in die Welt hinaus! Ich will in den Westen und frei leben!“ Der Konflikt war ein Vorbote der Ausreisebewegung der DDR-Jugend in den letzten Jahren des Bestehens dieses Staates. 

Wolf Biermann und Jens Reich

Wenn Sie dann auf die Hannoversche Straße treten, liegt gegenüber an der Ecke rechts das Miethaus, das heute noch im grauen Fassadenputz der DDR dasteht, während sich ringsum fast alles erneuert im Talmi-Glanz des reicher gewordenen Berlins präsentiert. In dem grauen Haus wohnte damals in der zweiten Etage der Liedermacher Wolf Biermann mit seiner Familie. Für die Behörden war er seit den frühen 60er Jahren zu einem der gefährlichsten Staatsfeinde geworden, und sie hielten ihn mehr als Jahrzehnt in einer Art Privatknast mit gelegentlich geduldetem Freigang. Das Haus und alle seine Besucher wurden streng observiert und kontrolliert.  Man sah die schleichenden Gestalten in Zivil, die nichts zu tun hatten, und man konnte sich denken, wen sie da beobachteten. 

Authentische Begleitung durch Straßenlärm  

„Chausseestraße 131“ ist die Postadresse des grauen Hauses, und es ist auch der Titel einer Biermannschen Langspielplatte von 1968. Man kann die Lieder auch heute auf modernerem Tonträger erwerben. 

Diese Lieder, im Geiste des klassischen politischen Liedersängers François Villons aus dem 15. Jahrhundert, machten Biermann weltberühmt. In der DDR wurde er leider nur als Geheimtipp bekannt, weil die Bänder und Platten dort für Wenige erreichbar waren. Ich habe Ende der 60er im Westradio und als Gast in privatem Kreise einige dieser Lieder gehört. Die meisten in meiner Umgebung kannten wie ich den Namen des Sängers nur vom Hörensagen. Ich erinnere mich aber an eine Sitzung mit Bekannten, wo einer die Platte auflegte. 

Die Wirkung der Lieder war erstaunlich: Die von ihm selbst geschriebenen und für Gitarrenbegleitung arrangierten lyrischen Texte waren in eindringlichen, klar verständlichen Worten (hierin offensichtlich von Bertolt Brechts Lyrik beeinflusst) verfasst. Der vorzügliche, melodisch und harmonisch teilweise vom Sänger unabhängig geführte, virtuose Gitarrenpart trug stark zur emotionalen Wirkung der Songs bei. Authentische Begleitung war der Hintergrund von Straßenlärm und quietschend um die Ecke biegender Straßenbahn, die zum künstlerischen Markenzeichen von Biermanns Liedkunst jener Jahre wurden. Das war geboren aus der Not der improvisierten Aufnahme im Wohnzimmer mit Aufnahmegeräten, die ihm von westlichen Verehrern herüber geschmuggelt worden waren. 

Ungeschminkte Kritik 

Der eigentliche Schock für mich, wie für die meisten, die ihm damals zuhörten, war die unerhört scharfe, von jeder Vorsicht und Rücksicht freie Attacke auf die herrschenden Politbürokraten, auch auf deren beflissen dienende Parteigenossen in allen Bereichen des offiziellen Lebens und ebenso die unüberhörbare Kritik an seinen Künstlerkollegen in Theater, Literatur und Musik in der DDR, die ihre Opposition gegen die Knebelung der Freiheit auf halb bockige, halb beflissene Andeutungen beschränkten. 

Das Publikum, für das Biermann sang, war potenziell die angepasst schweigende Mehrheit der DDR-Bürger. Es waren mindestens 80 Prozent der Bevölkerung, die sich so verhielten, wie sich später – 1989/1990 – zeigen sollte. 

Ich will etwas erzählen, an das sich Wolf vielleicht nicht mehr erinnert. Anfang der 70er Jahre war ich Zuschauer mit Verwandten und Freunden bei einer privaten Theateraufführung in einer der Nischengesellschaften. Was sie aufführten, war ein von den Darstellern entwickeltes Stück, das Beziehungsprobleme junger Menschen tiefenpsychologisch analysierte – also sehr unpolitisch und ziemlich verquast. Auch Wolf Biermann war zur Aufführung eingeladen worden. Er unterbrach sie nach einiger Zeit und rief laut von hinten ins Publikum, dass dieser ganze Psychoquark Scheiße wäre. Unbedingt an der Tagesordnung sei jetzt politische Selbstvergewisserung und Selbstaktivierung gegen den obstinaten Machtapparat der DDR. Dazu müssten wir uns aufraffen und wirklich aktuelles Theater entwickeln. Das sprach er und verließ Türen knallend den Saal und das verdutzte Publikum zurück. Die Aufführung erholte sich danach nicht mehr richtig. 

Eine doppelte Isolierung 

Ich sah ein, dass dieser Mann mutig war und dabei Recht hatte. Die fehlende Freiheit quälte mich, trotz all unserer privaten Gegenwelt, sie lähmte meine wissenschaftliche Arbeit im Beruf. Jedoch: Was folgte daraus? Was war zu tun? Etwa zur Chausseestraße 131 fahren, das Klingelschild Biermanns suchen (falls es eines gab), dabei von den zahlreichen Beobachtern ringsumher verdeckt fotografiert zu werden und, falls man öffnete, sich als Mitkämpfer anbieten? Das ging natürlich nicht. Er hätte vermutlich einen solchen ungebetenen Besucher als Lockvogel eingeschätzt, und diese Einsicht zeigte mir, dass den Machthabern die Isolierung des Liedermachers vollends gelungen war. 

Es hat in den trüben Jahren nach dem Mauerbau in der ganzen weiten DDR für mich wahrnehmbar nur zwei Menschen in prominenter Position gegeben, die offen und ungeschminkt, unter hohem persönlichen Risiko, gegen das bürokratisch-diktatorische Machtregime aufgetreten sind: Wolf Biermann, als singender Barde des politischen Lieds, und Robert Havemann, der Naturwissenschaftler, Professor für physikalische Chemie und Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften.  

Die beiden waren eng befreundet. Einer kämpfte mit der Waffe des politischen Liedes, der andere mit Vorlesungen und Schriften für politische Reformen. Beide taten das in der Intention, das verknöcherte System überlebensfähig zu machen. Sie wollten es nicht abschaffen. 

Das SED-Regime erkannte klar, dass beider politische Aktivitäten außerordentlich gefährlich für ihren Staat würden, wenn ihnen die Mobilisation der Jugend gelänge. Auch sie sollten, wie sich später zeigte, mit ihren Befürchtungen Recht behalten. 

Berufsverbote und Hausarrest 

Die Behörden konnten sich allerdings nicht entschließen, die beiden – so wie sonst stets mit Regimegegnern geschehen – durch Lagerhaft und Zuchthaus zu brechen. Vermutlich waren sie im Westen zu bekannt, und sie genossen wohl auch wegen ihrer antifaschistischen Vergangenheit einen gewissen Schutz vor dem Äußersten (Havemann war von dem berüchtigten NS-Scharfrichter Roland Freisler wegen angeblichen Hochverrats zum Tode verurteilt worden und wartete auf die Vollstreckung dieses Urteils im gleichen Zuchthaus in Brandenburg, wo Erich Honecker zehn Jahre in Haft war. Biermann hatte seinen Vater durch den Naziterror in einem Vernichtungslager verloren). 

Stattdessen verhängten die Behörden Berufsverbote. Biermann hatte 1965 bis zu seiner Ausbürgerung 1976 Auftritts- und Publikationsverbot. Havemann wurde aus seiner Universitätsprofessur und mit Mehrheitsbeschluss aus der Akademie ausgeschlossen, und seine Arbeitsstelle für Photochemie wurde aufgelöst. Das ist für die DDR-Wissenschaft eine moralische Last, dass wir das zugelassen haben. Beide wehrten sich mit Interviews und Publikationen im Westen, die aber in der abgeschlossenen DDR nur einer Minderheit zur Kenntnis kamen.  

Zusätzlich umbauten die Machthaber bei Wolf Biermann die Stadtwohnung mit einer unsichtbaren Umzäunung von Beobachtern in Zivil. Bei Havemann nahm ein gerichtlich verhängter Hausarrest in seinem Bungalow besonders groteske Formen an. Die Staatssicherheit umstellte rund um die Uhr weiträumig alle Zugänge von der Straße und vom See aus; sie registrierte die wenigen, die sie aus politischen Überlegungen durchließ (darunter Spitzel). Der wegen seiner Lungenkrankheit körperlich, jedoch nicht in seinem Widerstandswillen gebrochene Robert Havemann hielt das sehr lange aus, bis er 1982 verstarb.  

Ein historischer Rohrkrepierer 

Bei Biermann hat sich der Staat gewaltig verkalkuliert. Weil er den Machthabern immer unbequemer und schließlich in deren Einschätzung richtig gefährlich geworden war, hatten sie deshalb im Herbst 1976 beschlossen, sich seiner mit einem Trick zu entledigen. Sie ließen ihn mit Rückkehrzusicherung zu einem Konzert in die Bundesrepublik ausreisen und entzogen ihm, als er dort war, die Staatsbürgerschaft der DDR, sodass er nicht zurück konnte, den Pass nicht mehr hatte, und gegen seinen Willen zum Emigranten wurde.  

Diese Maßnahme geriet allerdings zum historischen Rohrkrepierer. Die zwangsweise Ausbürgerung mobilisierte ganz viele DDR-Kulturschaffende, Intellektuelle, Akademiker, Studenten und zahlreiche unbescholtene Bürger zu politischen Protesterklärungen und öffentlichen Petitionen. Der Fall Biermann wurde zum ersten Sargnagel des autoritären Bürokratenstaates. 

Robert Havemann hatte ich direkter als Biermann erlebt. Ich hatte seine Vorlesungen über  Philosophie der Naturwissenschaften in den 60er Jahren besucht und war von seiner Wandlung vom philosophierenden SED-Bonzen zum Dissidenten sehr beeindruckt. Persönlich allerdings war er mir unsympathisch geworden, weil er in den Diskussionen zu seinen Thesen zweimal sehr autoritär Studentinnen abgekanzelt hatte, die ihm gegenüber naiv ihre christliche Weltanschauung verteidigten. 

Zögern, Vorsicht, Feigheit 

Ich habe allerdings 15 Jahre später eine persönliche Einladung von ihm erhalten. Sein Verbannungsort Grünheide war dem Dorf benachbart, wo sich das gemietete Häuschen unserer Mehr-Familien-Wochenend-Kommune befand, das am Eingang das stolze Schild „Summerhill“ auswies. Wir hatten das Häuschen so benannt, weil wir den Kindern zwei von sieben Wochentagen die Freiheit lassen wollten, zu tun, was sie wollten, bevor am Montag der schulische Drill mit dem Morgenappell wieder weiterging.  Die Havemann-Leute waren dadurch auf uns aufmerksam geworden. Eines Tages hielt ein Wartburg vor unserem Grundstück, und ein junger Mann und eine junge Frau stiegen aus und sprachen uns an, ob wir nicht zu ihnen, zu Havemanns, zu einer geplanten Abend-Diskussion über moderne Erziehungskonzepte kommen wollten. Einer von uns sagte halb zu und halb ab, wir würden uns gegebenenfalls melden. Was wir dann nach einer Gruppendiskussion nicht taten. „Da können wir ja gleich den Schlüssel abgeben und den Ausreiseantrag stellen!“, hieß es.  

Ich hatte neben diesem gemeinsamen Impuls der Vorsicht oder der Feigheit zudem ein eigenes dienstliches Motiv, die Einladung in das stets von mehreren Beobachtungslimousinen umgebene Haus in Grünheide nicht anzunehmen, was ich aber bei den anderen nicht geltend machen mochte: Ich war zuvor mehrfach zu unangenehmen dienstlichen Befragungen durch das MfS ins Ministerium für Wissenschaft und Technik bestellt worden, weil ein Mitarbeiter meiner Forschungsgruppe „illegale Republikflucht“ begangen hatte. Die Stasi setzte mich unter Druck, wieso ich als Gruppenleiter die Absicht nicht mitbekommen und angezeigt hätte, sondern dem Mitarbeiter in dienstlichen Berichten an die Direktion stets staatspolitische Loyalität bescheinigt hätte. Ich wollte wegen dieser Angelegenheit und auch wegen weiteren politischen Aktivitäten im privaten Bereich nicht noch gravierendere Minuspunkte ansammeln.  

Wenn das Labor nicht mehr so wichtig ist 

Trotz dieser Begründungen war mir seither unwohl mit meiner Entscheidung. Immerhin war der Mann unglaublich mutig und hatte Missstände im Staat und insbesondere in der Wissenschaft angeprangert, die auch ich für untragbar hielt. Außerdem war uns bekannt, dass er aus der Nazihaft stammend schwer krank war und auf Solidarität angewiesen.  

So habe ich mich damals noch aus pragmatischen Gründen der Verantwortung des Wissenschaftlers zu Wahrheit und kollegialer Solidarität indirekt verweigert. Erst Jahre später, nach zahlreichen intensiven Diskussionen im Freundeskreis, insbesondere mit Aktivisten der polnischen Solidarność-Bewegung, ist mir allmählich bewusst geworden, dass man in Umstände geraten kann, in denen es wichtiger ist, sich politisch zu aktivieren, als weiterhin ruhig seine Wissenschaft im Labor oder in der Bibliothek zu betreiben. Mit dieser Erkenntnis habe ich zu lange gezögert und erst seit den frühen 80ern danach gehandelt. Das habe ich mit Karriereabbruch bezahlen müssen. Als Hypothese verallgemeinernd frage ich mich seitdem, ob wir, also das schweigende Volk, ob wir nicht die DDR-Existenz zehn Jahre oder auch nur fünf Jahre vor 1989 hätten beenden können, wenn wir uns früher zu aktivem Protest entschlossen hätten, anstatt sie mehr oder weniger schlecht gelaunt auf unbestimmte Zeit zu ertragen. Die Polen haben uns jedenfalls einiges besser vorgemacht. 

Gründungsaufruf des Neuen Forums 

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die Zeit schon vorher reif war. Im Herbst 1989 jedenfalls, genau gesagt: heute vor 30 Jahren, im Gründungsaufruf der Bürgerinitiative „Neues Forum“ haben wir solche Erkenntnisse berücksichtigt. Die Historiker urteilen heute, dass der Aufruf ohne ausgearbeitetes Programm gewesen sei, politisch völlig naiv. Ja, das trifft vollkommen zu. Naiv wie das Kind in „Des Kaisers neue Kleider“, und genau das war unsere Absicht. Wir wollten auf keinen Fall verschwurbelte Politsprache! Der Aufruf wollte der von nahezu allen, bis ins Vorzimmer des SED-Politbüros möchte ich sagen, geteilten Stimmung Ausdruck verleihen, dass es so nicht weiter gehen konnte. Wir sagten: Unsere Wirtschaft ist pleite, der Zustand der Umwelt ist entsetzlich (Stichwort Bitterfelder Silbersee), die Jugend läuft zu Hunderttausenden davon, und die Polen, die Ungarn, die Balten und sogar die Russen machen uns vor, dass man nicht länger schweigend und mit eingezogenen Fühlern im Schneckenhaus sitzen und schweigen darf.

Gerade die naive Berufung auf unsere legalen Absichten und die Verfassung der DDR veranlasste Hunderttausende aus der bis dahin verdrossen schweigenden Mehrheit im ganzen Lande, also auch auf dem Dorf und nicht mehr lediglich an einigen herausgehobenen Orten, sich der Bewegung des „Normalbürgers“ im „Mainstream“ anzuschließen und die waffenstarrende Machtstruktur zum Kollaps zu bringen. Kollaps wurde freilich nicht ausgesprochen, es ging um Reformen. Es war immer Vorsicht dabei, in Erinnerung an den Einmarsch in Prag 1968, an den Krieg der Sowjetarmee gegen Budapest 1956, an die Panzer, die 1953 hier in den Straßen Berlins gerollt waren. Man musste sich sehr genau überlegen, über was man reden kann, und mit welche Forderungen man vielleicht diejenigen, die man ansprechen wollte, abschrecken und zurückscheuchen würde ins schweigende Schneckenhaus. Ja, das war naiv. Wahrscheinlich konnte nur eine Bewegung wie sie diese Revolution – als „friedliche“ würde ich sie eigentlich nicht bezeichnen, eher gewaltfreie – auslösen und sich durch die Schwierigkeiten durcharbeiten. 

Erneut droht ein Kollaps 

Wie steht es heute – können wir aus unseren Fehlern und Versäumnissen einiges für die Zukunft lernen? 

Wir leben in einer völlig neuen Welt. Ich kann mich als Naturwissenschaftler zu den wichtigen Fragen der Zukunft äußern. Jedenfalls gehe ich kein Risiko ein, verhaftet zu werden. Trotzdem gehört Entschlossenheit dazu. Und es ist so einfach, den notwendigen öffentlich hörbaren politischen Kommentar gerade dort, wo es auf sorgfältig erworbene Kompetenz als Naturwissenschaftler ankommt, anderen zu überlassen. 

Alle wichtigen Fragen an die Zukunft sind heute global (nicht mehr DDR-lokal) konstituiert. Sie lassen sich zusammenbinden in die Diagnose, dass (ich drücke es biologisch aus) Homo sapiens die Trag- und Stressfähigkeit der Biosphäre dieses Planeten gefährlich überlastet.  

Nunmehr um Jahrzehnte älter geworden, beunruhigt mich immer noch die Frage, ob es nicht für die heute aktive Wissenschaftlergeneration unabweisbar notwendig wird, aus der unpolitischen „splendid isolation“ unseres Berufes herauszukommen und sich politisch zu engagieren. Als Biologen und Mediziner haben wir unbestreitbar Sachkompetenz, laut auszusprechen und zu belegen, dass die Menschheit weit über ihre Verhältnisse lebt und die Stress- und Tragfestigkeit der gesamten Biosphäre auf dem Planeten mit wachsender Intensität überlastet. Die globale Dynamik unserer Lebenstätigkeit läuft unübersehbar auf einen Kipppunkt zu, hinter dem es keine Rückkehr zum bisherigen Fließgleichgewicht mehr gibt. Der Zeithorizont beträgt einige Jahrzehnte, äußerstenfalls vielleicht 50 Jahre. Und der systemische Kollaps wird diejenigen noch treffen, die heute jung sind und Kinder haben werden oder bereits haben.    

Nicht im Schneckenhaus sitzen bleiben 

Wir dürfen als Naturwissenschaftler die naiv protestierenden Freitags-Schüler nicht allein lassen, sondern ihnen zu sachgerechtem Detailwissen verhelfen. Und es geht nicht nur um den Klimawandel, sondern vor allem um die dramatische Überstrapazierung des gesamten Planeten: Vermüllung von Land und Ozeanen, Ausbeutung von Grund- und Trinkwasser-Ressourcen sowie Rohstoffen, Intensivlandwirtschaft, Massentierhaltung, Bodenerosion, schwindende Artenvielfalt, polare Eisschmelze und Auftauen von riesigen Permafrostgebieten, Umkippen unverzichtbarer terrestrischer und mariner Ökosysteme wie Tropenwald und Korallenriffe. Das alles zusammen steuert auf einen Notstand zu, den zu bezweifeln nichts mehr mit freiem politischen Meinungsstreit zu tun hat, sondern eine halsstarrige Missachtung der Interessen zukünftiger Generationen darstellt. 

Damals wurde mir, wurde uns allen die persönliche Freiheit und die Handlungsfreiheit als Staatsbürger vorenthalten, und es war auch unsere Verantwortung, um unsere Befreiung zu kämpfen. Sehr viele, auch die DDR-Wissenschaft, haben sich 1989 eher passiv befreien lassen von den großen Demonstrationen, als selbst zu handeln. 

Heute habe ich, haben wir gemeinsam politische Handlungsfreiheit, und es ist unsere Verantwortung, ohne hysterischen Alarm, aber auch ohne stille Resignation die gefährlich drohende Krise des Planeten darzustellen und Handlungen entwickeln zu helfen, wie man die Gefahr eindämmen kann.  

Das habe ich aus meinen Handlungen, aus meinen Fehlern gelernt. Dieses Mal dürfen wir nicht im Schneckenhaus sitzen bleiben und nachdenklich – besser wissend – abwarten, ob und wann die Krise des Planeten nicht mehr beherrschbar wird.