Montagsdemonstration

War ich ein Held? War ich ein Feigling?

Professor Thoralf Niendorf, Leiter der Arbeitsgruppe Experimentelle Ultrahochfeld-MR

Das Jahr 1989 des gewaltfreien Umbruchs in der DDR. Ich studierte im (vor)letzten Jahr Physik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig.

Mein Bruder war im September 1989 über die Grüne Grenze in Ungarn nach Österreich geflüchtet und nach wenigen Tagen im Auffanglager in Bayern und dann bei Freunden in Bremen gelandet. Daraufhin bearbeitete die Stasi meine Eltern und mich. Wie sich später herausstellte, taten sie das unter anderem über unmittelbare Nachbarn, ehemalige Mitschüler, ehemalige Kollegen meines Bruders und über Mannschaftsmitglieder meines Fußballvereins. 

Ich hatte Zeugnisse, in Form eines Studienbuches, während es im bundesdeutschen System Scheine gab.
Prof. Dr. Thoralf Niendorf
Thoralf Niendorf Arbeitsgruppenleiter

Zeitgleich begann Anfang September das Wintersemester in Leipzig. Die linientreuen Professoren warnten uns Physik-Studenten in den Vorlesungen ausdrücklich vor der Teilnahme an den Montagsdemos. Für die Montagsdemos schlich ich mich deshalb mit Kommilitonen immer aus dem Hintereingang des Studentenwohnheimes in der Linnéstraße, um für Denunzianten unentdeckt zu bleiben. Beim Marsch vom Augustusplatz über den Georgiring hätte ich nicht einmal vor den in den Seitenstraßen auf LKWs bereitstehenden Polizeieinheiten und paramilitärischen Einsatzgruppen fliehen können, da ich aufgrund einer Fußballverletzung einen Gips vom Knöchel bis zur Hüfte trug und auf Krücken laufen musste. Während der Demos lungerten überall Stasileute in Lederjacken und mit typischem Armeehaarschnitt herum, die uns scheinheilig ansprachen, was denn dort los sei. 

DDR, Leipzig am 6. November 1989: Teilnehmer einer Montagsdemonstration vor dem Gebäude der Staatssicherheit.

Anfänglich ging es bei den Demos um Forderungen nach mehr Demokratie, bis im November – nach dem Fall der Mauer – schnell die Gretchenfrage nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten in den Sprechchören und Diskussionen offen formuliert wurde. 

Am 9. November fuhr ich mit dem Zug von Leipzig in meine Heimatstadt Jüterbog, um dort als Mitglied der Jungen Gemeinde zusammen mit meinem Vater an einer Podiumsdiskussion mit Vertretern der SED-Kreisleitung, des Rates des Kreises und der örtlichen Stasi in der Nikolaikirche teilzunehmen. Plötzlich gingen gegen 20 Uhr die großen mittelalterlichen Kirchenportale auf, ein Mann kam atemlos in das riesige Kirchenschiff gerannt und rief aufgeregt: „Die Mauer ist offen“. Alle schauten sich ungläubig an, konnten die Nachricht vor Freude nicht fassen und strömten aufgeregt nach Hause, um die neuesten Entwicklungen am Fernseher zu verfolgen. 

Meine Familie blieb bis in die frühen Morgenstunden des 10. November wach. Dann brach mein Vater etwa gegen 04:00 Uhr morgens von Jüterbog Richtung Bahnhof Berlin-Friedrichstraße auf, denn er hatte noch im September 1989 einen Antrag auf Besuchsgenehmigung für den Geburtstag eines entfernten Verwandten im Ruhrgebiet gestellt, der zu unser aller Überraschung Ende Oktober mit Starttermin 10. November bewilligt wurde. Dies war eine Finte meines Vaters, denn sein wirkliches Reiseziel war natürlich, meinen über Ungarn geflüchteten Bruder in seiner neuen Heimat zu besuchen. 

Ich hätte viel früher offen aufstehen sollen.
Prof. Dr. Thoralf Niendorf
Thoralf Niendorf Arbeitsgruppenleiter

 

 

 

 

 

So reiste mein Vater am 10. November morgens nach Art und Kontrolle des SED-Regimes mit Visum über den Tränenpalast am Bahnhof-Friedrichstraße aus. Welch eine paradoxe Situation, denn ich begab mich derweil mit dem Trabant – eine Hinterlassenschaft meines Bruders – über die innerdeutsche Grenze bei Marienborn auf den Weg nach Bremen, wo unsere Familie ein Wiedersehen feiern konnte. Dort nutzte ich sofort die Gelegenheit und besuchte den Fachbereich Physik an der Universität Bremen, um einen Betreuer und ein Thema für meine Diplomarbeit zu finden. Diese fand ich glücklicherweise in der Gruppe von Prof. Adalbert Mayer-Heinricy, dem ich für seine Offenheit und seinen Mut unendlich dankbar bin. Andere Professoren lehnten mein Ansinnen glattweg ab, da sie meinen Zeugnissen und meinem Curriculum nicht trauten, welches nicht hundertprozentig deckungsgleich mit dem System der Universität Bremen war, und Angst vor der Universitätsverwaltung hatten. Ich hatte Zeugnisse in Form eines Studienbuches, während es im bundesdeutschen System Scheine gab. 

War ich ein Held? Ich war ein ausgemachter Feigling, denn ich hätte viel früher offen aufstehen sollen. Das gilt auch heute. Das wurde mir wieder beim Konzert von Wolf Biermann aus Anlass der „Breaking Boundaries-Serie“ vor wenigen Wochen, am 9. September 2019, im BIMSB in der Hannoverschen Straße 28 bewusst, als der Liedermacher Wolf Biermann mit immer noch gewaltiger Stimme sang: 

Du, lass dich nicht verhärten
in dieser harten Zeit. Die allzu hart sind, brechen,
die allzu spitz sind, stechen und brechen ab sogleich. 
Du, lass dich nicht verbittern in dieser bittren Zeit. 

Niendorfs Tochter mit dem Schild "We need a global solution to beat the pollution" gemeinsam mit vielen anderen Demonstrierenden auf der Fridays for Future Demonstration am 21.06.2019 in Aachen, Nordrhein-Westfalen.

Ich schrieb deshalb noch am gleichen Abend meinen beiden Töchtern im Alter von nunmehr 14 und 17 Jahren via Whatsapp, dass diese Biermannschen Zeilen Gültigkeit für die Ewigkeit besitzen. Für meine Töchter sind diese Zusammenhänge sehr schwer zu verstehen. Denn welches junge Hirn kann trotz all der Geschichtsbücher, persönlichen Erinnerungen der Eltern, Verwandten und Freunde und meiner vielfältigen Versuche, sie an die Geschichte insbesondere in der ehemaligen Viermächtestadt Berlin heranzuführen, den politischen Irrsinn der Teilung eines Landes begreifen? Auch deshalb schreibe ich diese Zeilen. Als Erinnerung schenkte mir Wolf Biermann eine in Spiegelschrift signierte Kopie seines an diesem Abend vorgetragenen Gedichtsblattes nebst einer persönlichen Widmung. 

Übersetzt in die heutige Zeit freute ich mich deshalb umso mehr, dass meine jüngste Tochter zu meiner Überraschung am 22. Juni 2019 in der Online-Ausgabe der ZEIT im Mittelpunkt eines Fotos über die Fridays-for-Future-Demonstrationen mit dem Banner: We need a global solution to beat the pollution abgebildet war. Sie hat offensichtlich aus meiner Feigheit gelernt. Das macht Mut.

 

© ullstein bild/BPA