Die Letzten ihrer Art
Während der Bulle Sudan, seine Tochter Najin und die Enkelin Fatu im Ol-Pejeta-Schutzgebiet in Kenia grasen, beobachten bewaffnete Leibwächter rund um die Uhr die Umgebung. Die drei Nördlichen Breitmaulnashörner sind die letzten Exemplare weltweit. Wilderer sollen nicht einmal in ihre Nähe kommen.
Die Wache allein bewahrt die Art jedoch nicht vor dem Aussterben. Denn keines der Tiere kann sich auf natürlichem Wege fortpflanzen: Sudan ist alt, hatte bereits einen Herzinfarkt und seine niedrige Spermienanzahl macht eine Befruchtung unwahrscheinlich. Najin hat es in den Beinen und könnte ein Kalb kaum austragen. Fatu wiederum plagt ein Leiden der Gebärmutter.
Ein Forschungsteam aus Deutschland, Italien, Japan und den USA will dennoch eine künstliche Befruchtung ermöglichen – entweder mithilfe der beim Menschen weit verbreiteten Reagenzglas-Befruchtung von vorher entnommenen Eizellen und tiefgefrorenem Sperma. Dabei ist die Größe der Tiere und ihrer Fortpflanzungsorgane eine extreme Herausforderung an die Forscherinnen und Forscher. Oder mithilfe modernster Stammzelltechnologien, die dabei helfen können, seit Jahren tiefgefrorene Gewebeproben verstorbener Nördlicher Breitmaulnashörner in die komplexe Rettungsaktion einzubeziehen und künstliche Keimzellen zu züchten. Ist dies erfolgreich, würden die Embryonen letztlich jeweils einem Südlichen Breitmaulnashorn eingesetzt. Die Weibchen der naheverwandten Art wären als Leihmütter geeignet.
Die künstliche Befruchtung ist keine Routine
Schon die erste Methode wäre eine Weltpremiere. Zwei Jahre haben die Reproduktionsexperten um Thomas Hildebrandt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) die Technik perfektioniert, mit der sie den tonnenschweren Tieren Eizellen entnehmen wollen. Bald soll es soweit sein. Gleichzeitig haben sie mit Kooperationspartnern in Italien in-vitro-Protokolle entwickelt, damit die Nashorn-Eizellen heranreifen und künstlich befruchtet werden können.
Die nächste Hürde ist die Zeit bis zum Einpflanzen in die Leihmutter. Die Forscherinnen und Forscher müssen das richtige Medium finden, damit der Embryo während der ersten Tage in der Petrischale gedeihen kann. Bei Tests mit dem Südlichen Breitmaulnashorn hat dies bisher bis zu den ersten Zellteilungsstadien geklappt.
Ob die Eizellen von Najin und Fatu für diese Reproduktions-Experimente ausreichen werden, kann niemand vorhersagen. Sebastian Diecke vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) arbeitet deshalb an einer Alternative. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Japan und München möchte er Hautzellen des Nördlichen Breitmaulnashorns in reife Eizellen verwandeln.
Indiana Jones der Veterinärmedizin
„Thomas Hildebrandt ist so etwas wie der Indiana Jones der Veterinärmedizin“, sagt Sebastian Diecke, der Leiter der Technologieplattform Stammzellen des MDC und BIH. „Er möchte eine Frozen Arc mit Zellmaterial bedrohter Tierarten aufbauen.“ Auf der Suche nach Partnern mit der entsprechenden Laborexpertise traf er zunächst auf Micha Drukker vom HelmholtzZentrum München. Drukker schaffte es, Hautzellen des Nördlichen Breitmaulnashorns in induzierte pluripotente Stammzellen (ipS-Zellen) umzuprogrammieren und holte Diecke hinzu. Gemeinsam konnten sie ipS-Zellen unter anderem in Nervenzellen und funktionsfähige Herzmuskelzellen differenzieren. Reife Eizellen zu produzieren, ist allerdings ungleich komplizierter.
Nur bei der Maus hat das bislang funktioniert, berichtete im Oktober 2016 ein Team um Katsuhiko Hayashi von der Kyushu-Universität in Japan im Fachblatt „Nature“. Sie hatten sowohl embryonale Stammzellen als auch Hautzellen aus der Schwanzspitze der Mäuse im Labor in insgesamt fast 3200 reife Eizellen differenziert. Als die Forscherinnen und Forscher jene Eizellen mit normaler Chromosomenzahl künstlich befruchteten und 316 Embryonen in Mäuse-Leihmütter einsetzten, entwickelten sich elf gesund weiter und wurden geboren. Die jungen Mäuse wuchsen normal heran, waren fruchtbar und starben nicht vorzeitig. Es war das Ergebnis von etwa einem Jahrzehnt mühevoller Kleinarbeit, in der sie den kompletten Lebenszyklus der Mäuse-Keimzellen im Labor rekapituliert hatten.
Selbst ausgestorbene Arten könnten auferstehen
Diese Erfahrungen bringen die „Eizell-Ingenieure“ nun in das Projekt zur Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns ein. Drei Wochen war Katsuhiko Hayashi im letzten Jahr am MDC zu Gast, mit Sebastian Diecke startete er die ersten Versuche. „Uns geht es zunächst um die Vorläufer der Eizellen“, sagt Diecke. Der Schritt bis zur reifen Eizelle und schließlich bis zur Geburt eines so gezeugten Nashorns sei viel größer. „Dafür brauchen wir Geldgeber, es sollte sich jemand intensiv darum kümmern.“
Der lange Weg schreckt Diecke nicht ab. Denn das Projekt reizt ihn nicht nur, weil es wissenschaftliches Neuland erschließt. „Jeder – unabhängig von der Vorbildung – versteht, warum wir damit unserer Verantwortung für die Biodiversität gerecht werden“, sagt der Stammzell-Experte. Das oberste Ziel sei zwar, Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum zu schützen. Doch wenn eine Art bereits auf der Kippe stehe, sollte man alles tun, um sie vor dem Verschwinden bewahren. „Wenn wir Erfolg haben, könnte man in Zukunft sogar ausgestorbene Arten auferstehen lassen“, sagt er. Der Frozen Zoo am Beckman Center for Conservation Research in San Diego habe bislang 10.000 Zellkulturen von 1000 Arten tiefgefroren gesammelt. „Diese Ressource könnte man verwenden.“ Das Nördliche Breitmaulnashorn wäre dann nur der Anfang.
Lange Nacht de Wissenschaften auf dem Campus Buch
„Von einer Hautzelle zum ganzen Tier“, 24. Juni 2017 ab 16 Uhr, Stand im Foyer des Hermann-von-Helmholtz-Hauses (C84), 18 Uhr Vortrag auf der Bühne des MDC.C-Foyers.