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Stratege des Fettstoffwechsels

Alzheimer ist auch ein Problem des Stoffwechsels. Thomas Willnow sucht nach Störungen des Fetthaushalts im Gehirn, die den Abbau von Nervenzellen beschleunigen – und hat dabei wichtige Risikofaktoren entdeckt, die Ansätze für Therapien bieten, um Alzheimer frühzeitig zu behandeln.

„So sieht es dann im Gehirn aus“, sagt Thomas Willnow. Er deutet auf seinen Bildschirm, der auf einem großen Schreibtisch steht, leergefegt von Papier und anderen Ablenkungen. Diese Ordnung braucht er, um voranzukommen, mehr zu verstehen von den Grundlagen dieser Erkrankung, die in Deutschland rund 700.000 Menschen betrifft und das alternde Gehirn schrumpfen lässt wie eine Weintraube, die zu lange in der Sonne liegt: Alzheimer. „Bis zu 30 Prozent der Gehirnmasse sind einfach verschwunden“, sagt Willnow. „Das ist der Moment, in dem wir therapeutisch nichts mehr tun können.“

Ich bin ein ungeduldiger Mensch, schaue selten zurück. Ich suche immer die Antwort auf die nächste Frage.
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Thomas Willnow Leiter der Arbeitsgruppe "Molekulare Herz- Kreislaufforschung"

Thomas Willnow leitet am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) die Arbeitsgruppe „Molekulare Herz-Kreislaufforschung“. Das hat mehr mit Alzheimer zu tun, als man denken mag. Denn Störungen des Fettstoffwechsels sind nicht nur gefährlich für die Gefäße des Herzens. Sie sind auch ein Hauptrisikofaktor für das Absterben von Nervenzellen im Gehirn. Als Zellbiologe versucht Willnow, die molekularen Grundlagen des Fettstoffwechsels im Gehirn zu ergründen. Er will Ansätze finden, um die krankhafte Vergesslichkeit frühzeitig behandeln zu können – lange bevor das Gehirn aussieht wie eine verschrumpelte Rosine. Dafür kniet er sich tief in die Arbeit. „Ich bin ein ungeduldiger Mensch, schaue selten zurück. Ich suche immer die Antwort auf die nächste Frage“, sagt er.

Eine der großen Fragen der Alzheimer-Forschung

Willnow öffnet eine Schublade und holt ein Plastikmodell des Gehirns hervor, halb geschnitten und in sauberem Vorführ-Zustand. Es ist eine der Requisiten, mit denen er Laien erklärt, was er macht. Dort, in einer zentralen Region des Gehirns, dem entorhinalen Kortex, der Emotionen und Gedächtnis kontrolliert, beginnen die Probleme, die Plaques, die nach und nach auch die umliegenden Bereiche der Großhirnrinde befallen.

Er zieht einen Stapel Papier aus dem Drucker und skizziert auf dem obersten Blatt eine Nervenzelle, fünfeckig, mit spinnenbeinigen Fortsätzen, den Axonen, und mit Synapsen an ihren Enden. Damit kommuniziert die Zelle, bildet Netzwerke und macht das Gehirn zu dem, was es ist: ein Wunderwerk der Evolution. „Bei Alzheimer ziehen sich diese Fortsätze zurück und die Nervenzellen verkümmern“, erklärt Willnow. Der Grund dafür ist Stress der Zelle, der etwa durch Diabetes, Bluthochdruck, Fettsucht, Epilepsie oder Entzündungen entstehen kann. Das Resultat: Die gefürchteten Plaques, Eiweißfragmente, lagern sich zwischen den Nervenzellen ab und stören deren Funktion.  

Willnow ist auch an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Aarhus University affiliiert.

„Um gesunde Axone und Synapsen auszubilden, brauchen die Nervenzellen unter anderem Omega-3-Fettsäuren. Sie wandeln diese in Endocannabinoide um, um sich vor Entzündungen zu schützen“, sagt Willnow und zeichnet einen fünfeckigen Astrozyten auf ein zweites Blatt Papier. Diese Zellart im Gehirn versorgt Nervenzellen mit Omega-3-Fettsäuren. Dazu verbindet sie die Fette mit einen Transportpartikel, ApoE genannt – in Willnows Skizze ein Kreis mit vielen kleinen Fettkügelchen darauf. ApoE dockt an einen Rezeptor auf der Nervenzelle und wird mit diesem in die Zellmembran eingestülpt und in einem Bläschen abgeschnürt, um die nährende Fracht im Zellinnern abzuliefern. „Etwa sechs Mal in einer Stunde schaufelt der Rezeptor das ApoE in die Zelle“, sagt Willnow. Der Rezeptor Sortilin ist so etwas wie der Schaufelbagger des Fettstoffwechsels im Gehirn. Bei Alzheimer ist das Schaufeln gestört. Dadurch fehlen Endocannabinoide, und die Nervenzelle gerät in eine Art Dauerstress. Doch warum genau stockt dieser Versorgungsprozess? „Das ist eine wichtige Frage im Hinblick auf neue Therapieansätze“, sagt Willnow.

„Irgendwann knirscht es und die Maschine stoppt“

Mit seiner Forschungsgruppe hat Willnow eine mögliche Antwort darauf gefunden. Bereits 2013 hatte er Sortilin als entscheidenden Rezeptor für die ApoE-Transportpartikel in Nervenzellen identifiziert. Durch frühere Arbeiten von Genetikern war auch klar, dass etwa jede*r Fünfte eine besondere Variante des ApoE-Gens in sich trägt, die das Risiko einer Alzheimererkrankung um den Faktor 12 erhöht: ApoE4. Bei Mäusen konnte Willnows Arbeitsgruppe nun klären, warum das so ist. Die Variante des Transportpartikels verhindert, dass der Sortilin-Rezeptor nach dem Abladen seiner Fracht zurück auf die Zelloberfläche gelangt, um weiter zu schaufeln. Er verklumpt im Innern der Zelle. „Die Effizienz war bei den Mäusen mit ApoE4 um etwa die Hälfte reduziert, die Zelle bekommt also ständig zu wenig Omega-3-Fettsäuren und hat mehr Stress“, sagt Willnow. „Es ist wie bei einem Schaufelbagger, der 50 Jahre lang schlecht geölt ist. Irgendwann knirscht es und die Maschine stoppt.“

Diese 2020 veröffentlichte Entdeckung hat die Alzheimer-Forschung einen wichtigen Schritt weitergebracht. Doch Thomas Willnow ist niemand, der sich mit solchen Erfolgen brüstet. Ihn interessiert vielmehr der Erkenntnisprozess dahinter. Er vergleicht ihn mit einem Schachspiel. „Wenn ich einen Krankheitsmechanismus verstehen und behandeln will, muss ich alle Spielfiguren kennen: den Transportpartikel ApoE, woher er kommt, wohin er geht und wie er dort hingelangt“, sagt Willnow. „Erst wenn ich alle Figuren auf dem Schachbrett kenne, kann ich verstehen, wie sie interagieren und was vielleicht schiefläuft.“ Die nächsten Schachzüge plant er bereits. Er will sich an einer Reihe neu entdeckter Gene „abarbeiten“, die den Fettstoffwechsel im Gehirn beeinflussen. Könnte zum Beispiel eine Genvariante verhindern, dass sich die Bläschen bilden, die den Sortilin-Rezeptor mit ApoE in die Nervenzelle bringen? 

Eine neue Dimension der belebten Welt

Es waren die Grzimeks, Sielmanns und Cousteaus seiner Jugend, die in Thomas Willnow ein Faible für die Natur weckten – und den Drang sie zu verstehen. Für ein Biologiestudium ging er von Heidelberg nach München, kartierte nebenher Biotope für Naturschutzorganisationen. Doch bald schon eröffnete sich ihm eine neue Dimension der belebten Welt: die der Moleküle. „Am Ende erklärt das alles, die ganze Vielfalt der belebten Welt und auch die Probleme, die wir haben“, sagt Willnow.

Er beschloss, sich auf Zellbiologie zu spezialisieren und die Endozytose zu studieren, den Prozess, über den Zellen Nährstoffe aufnehmen. Als Postdoktorand ging er ans Southwestern Medical Center der University of Texas in Dallas, zu Joseph Goldstein und Michael Brown. Die beiden Mediziner hatten einige Jahre zuvor den Nobelpreis für ihre Arbeiten zur Bedeutung des Cholesterin-Stoffwechsels erhalten. „Diese Zeit war für mich prägend“, sagt Willnow. „Sie brennen für ihre Forschung und haben diesen Enthusiasmus und Willen, sich durch alle Schwierigkeiten durchzubeißen“, sagt er.

Thomas Willnow untersucht seit vielen Jahren die Entwicklung von neurodegenerativen Erkrankungen am MDC.

Ein Heisenberg-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglichte ihm, 1996 am MDC eine Arbeitsgruppe aufzubauen. „Damals wurde die Alzheimerforschung immens wichtig, und ich beschloss, mein Wissen aus der Zellbiologie darauf anzuwenden“, sagt Willnow. Das MDC war zu diesem Zeitpunkt gerade erst im Aufbau. „Die Entscheidung war ein Glücksgriff. Hier wurde schnell ein hohes internationales Niveau in der Biomedizin erreicht.“ Seine Liebe zur Natur währt indes noch immer. Oft reist er mit seiner Frau, einer Biologin, und den Söhnen, beide auch Biologen, nach Afrika oder Amerika, zu den Tieren aus den TV-Dokumentationen seiner Jugend. Nur dort, in der Wildnis, kann er so richtig abschalten.

Prototypen von Alzheimer-Medikamenten

Ein Ziel behält Thomas Willnow immer im Auge: Er will nützliches Wissen schaffen, molekulare Zielstrukturen für Therapien identifizieren. Zwei Mal schon hat er in seiner Zeit am MDC Firmen gegründet, um Medikamente zu entwickeln. Sie sollen spezifische Rezeptoren blockieren, die bei Demenz oder Schlaganfall den Nervenzelltod auslösen.

Nun hat er eine neue Arbeitsgruppe im dänischen Aarhus aufgebaut, die von der Novo Nordisk Foundation über sieben Jahre gefördert wird. Dort will er Prototypen von Alzheimer-Medikamenten entwickeln. „Der direkteste Ansatz wäre zum Beispiel, den Schaufelbagger quasi besser zu schmieren, damit mehr Fette in die Zellen gelangen. Wir wollen verhindern, dass ApoE4 den Sortilin-Rezeptor verklumpen lässt.“

Die Ungeduld, mit der er seine Forschung vorantreibt, erwächst auch aus Zeitdruck. „Alzheimer und andere Demenzen werden ein dramatisches Problem unserer alternden Gesellschaft“, sagt Willnow. Die Krankheit im späten Stadium zu therapieren, hat bisher nicht funktioniert. Es braucht dringend Erkenntnisse zu all den bekannten und noch unbekannten Figuren auf dem molekularen Schachbrett, um früher ansetzen zu können. Und die nächsten Schachzüge zu planen.

Text: Mirco Lomoth

 

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