Was lesen Sie gerade, Frau Ohnesorge?
Als Juristin fällt es mir manchmal schwer, die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen, die die Grundlage für die Forschung am Max Delbrück Center sind. Deshalb bin ich froh, dass mir das Buch „Das Lied der Zelle“ des amerikanischen Onkologen Siddhartha Mukherjee in die Hände gefallen ist.
Der Arzt und Forscher am Columbia University Medical Center in New York hat bereits mehrere Bücher über Molekularbiologie und Biomedizin geschrieben. In seinem neuesten Werk widmet Mukherjee sich der Zelle, dem Zusammenspiel der Moleküle, der Entdeckung zellulärer Strukturen und Funktionen, ihrer Differenzierung und ihren Pathologien – und am Ende auch der Reparatur und Zellerneuerung. All das beschreibt er äußerst abwechslungsreich und spannend, auch für Menschen, die keine Biolog*innen oder Mediziner*innen sind.
Verständlich und packend schildert er neue medizinische Methoden, geht auf Infektionen und Erreger ein. Mukherjee erzählt mit vielen Rückblenden in die Wissenschaftsgeschichte, und er berichtet zugleich von seinen persönlichen Erfahrungen. Anschaulich schildert er zum Beispiel den Fall eines Patienten mit einer Blutgerinnungsstörung, der zwar überlebte, ihn aber dazu veranlasste, das Wort „Blutbad“ nie mehr leichtfertig dahin zu sagen.
Das Buch beginnt im 17. Jahrhundert, als die Entwicklung der Mikroskope die Zellbiologie revolutionierte. Rudolf Virchow und Robert Koch bekommen ebenso ihren Platz wie die Geschichte der Reproduktionsmedizin und des ersten In-vitro-Babys Louise Brown.
Moderne Medizin ist für Mukherjee eine Abfolge überraschender Ereignisse. Sie ist aber auch geprägt von Rückschlägen, insbesondere in der Krebsmedizin.
Die Entwicklung der Impfung vollzieht Mukherjee am Beispiel der Pockenimpfung nach: „Aber die Geschichte der Impfungen ist keine Geschichte der fortschreitenden wissenschaftlichen Vernunft (…). Es ist vielmehr eine Geschichte von unklarem Hörensagen, Tratsch und Mythen. Ihre Helden haben keinen Namen: die chinesischen Ärzte, die erstmals Pockenpusteln an der Luft trockneten; die rätselhafte Sekte von Shitala-Gläubigen, die Virusmaterial mit gekochtem Reis vermischten und Kindern verabreichten; die Heilerinnen im Sudan, die irgendwann genau die richtigen Pusteln erkannten.“ In diesen Zusammenhang reiht sich die Geschichte von Alexander Fleming, der Kuhpocken als Impfstoff verwendete, als eine von vielen ein.
Ein ganzes Kapitel widmet Mukherjee der Corona-Pandemie, denn für ihn steht die Zellbiologie im Mittelpunkt der medizinischen Rätsel um das SARS-CoV-2-Virus.
In dem Abschnitt über T-Zellen, über deren Wechselwirkung mit chronischen viralen Infektionen er als Doktorand für Immunologie in Oxford forschte, beschreibt Mukherjee die Freundschaft zu seinem damaligen Mentor, der tragischerweise selbst an Lungenkrebs erkrankte und den Kampf dagegen verlor.
Wissenschaftliche Leistungen überhöht Mukherjee nicht, er sieht die Grenzen unseres Wissens. Aber die Forschung hilft Ärzt*innen, die Entstehung von Krankheiten besser zu verstehen. Die einzelne Zelle ist dabei Teil eines großen Ganzen.
„Das Lied der Zelle“ hilft allen, die keine Fachleute sind und wissen wollen, wie der menschliche Körper funktioniert. Molekularbiologie wird anschaulich und mit Würze vermittelt. Ein absoluter Lesetipp!
„Das Lied der Zelle. Wie die Biologie die Medizin revolutioniert – Medizinischer Fortschritt und der Neue Mensch“ von Siddhartha Mukherjee, Ullstein Verlag, 2023.