Faltkunst im Kern
Ein einziger Moment kann das Leben eines Menschen für immer verändern. Der erste Schuss einer Droge, der sofort süchtig macht. Ein Augenblick großer Angst, der als Trauma immer wiederkehrt. Eine Virusinfektion, die eine chronische Krankheit auslöst. Für die meisten Menschen klingt das vor allem tragisch, für Ana Pombo ist es zudem eine wissenschaftliche Herausforderung. Sie will wissen, wie sich solche Ereignisse in unsere Gene einschreiben. Was passiert in diesen Momenten in unserem Erbgut? Und wäre es möglich, die Veränderungen rückgängig zu machen? Die Sucht oder das Trauma auf der Ebene unserer Gene zu heilen? „Das wäre ein großer Traum für mich“, sagt Ana Pombo. „Doch erst wenn wir die Mechanismen kennen, nach denen unser Genom, also die Gesamtheit unseres Erbguts, funktioniert, können wir darauf einwirken.“
Um diesem Ziel näher zu kommen, betreibt die Professorin am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Grundlagenforschung. Die gebürtige Portugiesin, 50 Jahre alt, dunkle dichte Haare, schwarze Brille, durchquert die Räume ihres Labors, in dem es sehr lebendig zugeht. Junge Forscherinnen und Forscher sitzen in kleinen Grüppchen zusammen vor dem Computer, zeigen abwechselnd auf den Bildschirm, unterhalten sich auf Englisch. „Das ist das Schönste für mich“, sagt Ana Pombo, „wenn alle miteinander diskutieren.“ Das 14-köpfige, interdisziplinäre Team stammt aus zehn verschiedenen Ländern, darunter USA, Russland, Großbritannien, Iran oder Spanien. In ihrem Büro setzt sich Ana Pombo an den Tisch in der Mitte. Ihr Lieblingsplatz, weil sie hier alle um diesen Tisch versammeln kann. Durch die bodentiefen Fenster sieht sie auf Berlin-Mitte, die Charité ist nicht weit.
Die Gene sind wie Zutaten, die ein Koch zur Verfügung hat
Die Arbeitsgruppe „Epigenetische Regulation und Chromatinarchitektur“, die Ana Pombo seit 2013 am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des MDC leitet, erforscht das Zusammenspiel von Genregulation und der räumlichen Anordnung unseres Erbgutes. Die Forscherinnen und Forscher beobachten Zellen, wenn sie aktiv sind, ruhen oder sich teilen, wenn sie gesund sind oder krank. Sie schauen, nach welchen Regeln die Erbinformationen in unseren Zellen unentwegt abgelesen und verarbeitet werden. „Unser Genom, die Gesamtheit unseres Erbguts, ist wie ein dickes Buch“, sagt Ana Pombo. Der Körper suche sich genau die Informationen zur Lektüre heraus, die er gerade braucht. Er aktiviert oder blockiert bestimmte Abschnitte der DNA, schaltet Gene an und ab.
Um ihre Arbeit zu erklären, nutzt Ana Pombo gerne Vergleiche. „Die etwa 20 000 Gene im Körper jedes Menschen sind wie die Zutaten, die ein Koch zur Verfügung hat“, sagt sie. Je nachdem, was er damit mache, komme etwas anderes heraus. Die Wissenschaftlerin interessiert sich für die Rezepte dahinter. Welche Gene nutzt der Körper und in welchem Ausmaß? In welcher Reihenfolge und zu welchem Zeitpunkt?
Ana Pombo, die auch als Professorin an der Humboldt-Universität lehrt, war schon als Kind ein wissbegieriger Mensch. „Ich wollte immer ganz genau verstehen, wie komplizierte Systeme funktionieren“, sagt sie. Das galt für die Natur, für den Menschen genauso wie für die Gesellschaft. „Vielleicht ist es deshalb heute für mich das Größte, Dinge zu erforschen, die man eigentlich nicht sehen kann.“ An der Universität Lissabon studierte sie zunächst Biochemie und ging anschließend nach Großbritannien an die Universität Oxford, wo sie ihre Doktorarbeit schrieb. Bevor sie nach Berlin wechselte war sie Professorin am Imperial College in London.
Ungleichgewicht der Geschlechter
Als Schülerin war sich Ana Pombo gar nicht der Möglichkeit bewusst, dass sie einmal Wissenschaftlerin werden könnte. „Dafür gab es in meinem Umfeld keine Vorbilder“, sagt sie. Heute ist es ihr besonders wichtig, weibliche Kolleginnen zu fördern und zu unterstützen. Regelmäßig spricht sie auf Netzwerk-Veranstaltungen oder nimmt an Mentoren-Programmen in Deutschland und im Ausland teil. „Wir alle sollten uns fragen, warum es in unserem Beruf immer noch dieses Ungleichgewicht der Geschlechter gibt“, sagt sie.
Sie selbst habe die Erfahrung gemacht, dass man als Forscherin Beruf und Familie sehr gut vereinbaren kann. „Für eine Karriere in der Wissenschaft arbeitet man hart und viel“, sagt sie. „Man ist aber auch zeitlich flexibel.“ Als ihre eigene Tochter, heute 15 Jahre alt, klein war, verbrachte sie die Abende meist mit ihr. Wenn ihr Kind im Bett war, setzte sie sich noch einmal ein paar Stunden an den Computer. „Ich war bei mehr Schulfesten und Sportereignissen meiner Tochter dabei, als viele andere Eltern, die einen Nine-to-Five-Job haben.“ In ihrem eigenen Labor ist der Anteil von weiblichen und männlichen Mitarbeitern genau 50 zu 50. „Das ließ sich mit Leichtigkeit realisieren“, sagt sie.
Einige Gene haben Ana Pombos wissenschaftliches Interesse besonders geweckt. Sie befinden sich in einem „poised state“, einer Art Wartestellung, allzeit bereit zur Aktivierung. Auf einen Stimulus können sie schnell reagieren – zum Beispiel in der frühen Entwicklung. Man kann sie mit Sportlern vergleichen, die sich für einen Lauf aufgewärmt haben. Sobald der Startschuss fällt, können sie losrennen. Sind jedoch die Mechanismen, die diese Gene im späteren Leben bremsen, verändert, kann es zu Krankheiten kommen. Möglicherweise spielt das bei Krebs eine Rolle.
Gene werden erst durch die Faltung zu Nachbarn
Die Arbeit von Ana Pombo und ihr Team hat gezeigt, dass nicht nur die Abfolge der genetischen Buchstaben der DNA entscheidend für das Funktionieren des Lebens ist, sondern auch ihre räumliche Anordnung. Fast jeder kennt die Darstellungen von ausgebreiteten DNA-Strängen, die aussehen wie eine Leiter. Doch damit sie in den Zellkern passen, werden sie zu Päckchen gefaltet. Wie ein Knäuel liegt die DNA im Zellkern. Das ist nur scheinbar ein wirres Durcheinander. Denn durch die Faltung können Gene in Kontakt treten, die eigentlich auf dem linearen DNA-Strang weit voneinander entfernt liegen. „Verschiedene Regionen finden auf dem Chromosom zusammen, weil sie etwas gemeinsam haben“, sagt Ana Pombo. „Gene, die durch ähnliche Prinzipien reguliert werden, liegen durch die Faltung näher beieinander.“ Diese Regeln träfen aber nicht immer zu. „Es ist wie in der Kantine“, sagt Ana Pombo. „Mal sitzt man mit den Kolleginnen und Kollegen zusammen, mit denen man direkt zusammenarbeitet. Manchmal aber auch mit jemandem, den man von anderen Projekten kennt.“
2017 stellte Ana Pombo im Fachmagazin „Nature“ eine Methode vor, mit der sich die 3-D-Struktur des gesamten Genoms kartieren lässt. Durch das „Genome Architecture Mapping“ (GAM) kann man nun leichter bestimmen, welche Regionen auf der DNA bevorzugt miteinander in Beziehung treten. „Wir wollen diese Art der Kartierung jetzt auf spezifische Krankheitssituationen anwenden“, sagt Ana Pombo. Dazu gehören zum Beispiel Krankheiten mit komplexen Ursachen wie Autismus oder Epilepsie. Gerade begonnen hat eine Studie, die die Auswirkungen des Lebensstils wie Schlafentzug oder Drogenabhängigkeit auf das Genom von Hirnzellen untersucht.
Viele Pläne, von denen Ana Pombo glaubt, sie in Berlin am MDC optimal umsetzten zu können. Sie ist hier unter anderem stellvertretende Leiterin des BIMSB: „Berlin ist ein wunderbarer Ort, um Wissenschaft zu betreiben und eine Familie zu haben“, sagt sie. Denn auch privat fühlt sie sich in der deutschen Hauptstadt sehr wohl. Sie liebt ihre Wohnung in der Nähe des Bundesplatzes und streift mit der Familie gerne durch die Stadt. Am liebsten über die Märkte, durch die Parks und um die Seen. „Mir ist es wichtig, mit meiner Arbeit zu Bildung und Aufklärung beizutragen“, sagt die Biologin. „Wenn ich zeigen kann, welche Effekte eine bestimmte Ernährung, Rauchen oder zu wenig Schlaf auf unser Erbgut haben, gehen manche Menschen vielleicht bewusster mit diesen Themen um“, so hofft sie. Ana Pombo hat also noch einiges vor.
Text: Alice Ahlers