Abwasser aus Berlin im Labor

Virale Artenvielfalt im Abwasser

Umfassende Metagenom-Sequenzierungen des Berliner Abwassers über 17 Monate zeigen, dass man so die Ausbreitung von Krankheitserregern überwachen und Ausbrüche vorhersagen kann. Wie das Team um Markus Landthaler in „Environmental International“ schreibt, haben sie zudem Tausende neuer Viren entdeckt.

Gut gekühlt kommen die Abwasserproben im MDC an.

Dass Gesundheitsbehörden das städtische Abwasser überwachen, um bestimmte Mikroben wie Polioviren oder SARS-CoV-2 aufzuspüren, ist nicht neu. Eine umfassende Surveillance, die zusätzlich auf bislang unentdeckte und somit unbekannte Viren abzielt, ist dagegen in den meisten Orten der Welt nicht die Norm.

Das könnte sich in der Zukunft ändern. Denn Abwasser ist eine wahre Fundgrube für Daten zu Viren in unserer unmittelbaren Umgebung, zeigt eine Studie der Arbeitsgruppe „RNA-Biologie und posttranskriptionale Regulation“ von Professor Markus Landthaler am Max Delbrück Center. Die Wissenschaftler*innen analysierten Proben aus einer Berliner Kläranlage mithilfe der Shotgun-Metagenom-Sequenzierung. Dank dieser Technologie konnten sie alle Viren im Wasser umfassend untersuchen: von der Bestimmung von Virusvarianten bis hin zur Nachverfolgung einzelner Buchstabenänderungen im Erbgut.

Die Verbreitung der Virusvarianten nachvollziehen

Der Virenstammbaum zeigt die Verwandtschaftsverhältnisse der bekannten Virengruppen in verschiedenen Farben; die neu im Abwasser entdeckten Viren sind leuchtend hellblau dargestellt. Alle nach außen weisenden Linien stehen für ein virales Genom. Die neu entdeckten Viren mischen sich in die bekannten Gruppen (unterer Teil), bilden aber auch eigenständige neue Gruppen.

Sie fanden dabei zuverlässig alltägliche Viren wie RSV oder Grippe und konnten die saisonale Ausbreitung der Virusvarianten nachvollziehen. Je nach Jahreszeit wiesen sie außerdem typische Besucher im Abwasser nach: Viren, die Spargel infizieren, tauchten im Frühjahr auf, Weintrauben-Viren im Herbst und solche, die es auf Wassermelonen oder die Berliner Mücken abgesehen haben, im Sommer.

Die weit verbreiteten Astroviren, die beim Menschen den Magen-Darm-Trakt befallen, schauten sich die Wissenschaftler*innen genauer an. Sie verglichen, welche Mutationen im viralen Genom im Berliner Abwasser vorkamen und welche anderswo gefunden worden waren. So konnten sie die weltweite Ausbreitung einzelner Stämme nachverfolgen. In angereicherten Proben detektierten und sequenzierten sie außerdem etwa 70 menschliche Pathogene, die seltener zu finden sind. Sie entdeckten Tausende neuartiger Viren und erweiterten so unser Wissen um die virale Artenvielfalt. Doch ihre Analyse machte nicht bei den Viren halt. Die Daten brachten Hunderte Enzyme namens TnpB-Endonukleasen ans Licht, die potenziell in der Biotechnologie nützlich sein können. Das Team veröffentlichte die Studie in „Environment International“.

Die Überwachung des Abwassers hat meines Erachtens ungeheures Potenzial. Denn Sequenzierungen werden billiger“, sagt Landthaler. „Und mit den Maschinen werden sich auch die Bioinformatik-Werkzeuge verbessern, die wir für die Analyse dieser Daten brauchen.“

Nach bislang unbekannten Viren suchen

Die Wissenschaftler*innen filtrieren die bräunliche Brühe, reichern die Viruspartikel an, die sie dabei finden, isolieren und sequenzieren das Erbgut der Viren.

Die Forschung an den Abwasserproben hatte während der Coronapandemie begonnen. Dank einer Kooperation mit den Berliner Wasserbetrieben hatte die Arbeitsgruppe von Markus Landthaler Proben aus einer Berliner Kläranlage bekommen. So konnten das Team die Verbreitung und die Wellen der SARS-CoV-2-Varianten verfolgen. Als die Pandemie allmählich abebbte, beschlossen die Wissenschaftler*innen die zwischen März 2021 bis Juli 2022 gesammelten Proben erneut zu untersuchen. „Wir waren neugierig, was da noch zu finden ist“, sagt Dr. Emanuel Wyler, Postdoktorand in der Arbeitsgruppe von Landthaler und Erstautor der Studie. „Wir hatten hier ja ein sehr umfassendes Set an Daten, das in seiner Tiefe und Zeitspanne einzigartig ist.“

Die Forscher*innen extrahierten RNA aus den Proben und generierten 116 Bibliotheken komplementärer DNA. Sie speisten die Bibliotheken in einen Sequenzierer ein – und das Ergebnis waren Millionen Messwerte. „Diese Daten zu analysieren, ist eine Herausforderung“, sagt Dr. Chris Lauber, ein auf Bioinformatik spezialisierter Virologe von TWINCORE, dem Zentrum für Experimentelle und Klinische Infektionsforschung der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI). „Genomische Daten in die großen Virenfamilien einzusortieren, ist vergleichsweise einfach. Aber eine tiefgehende Analyse, die nach Varianten oder ganz neuen Viren sucht, kann sehr anspruchsvoll sein.“

Dies alles zeige, welches Potenzial die Überwachung des Abwassers hat – um die Evolution pathogener Viren zu untersuchen und im Hinblick auf Public Health und damit für die Gesundheit der Bevölkerung, sagt Landthaler. „Die Analyse des Metagenoms von Abwasser an möglichst vielen Standorten weltweit sollte Priorität haben“, sagt er.

gav

 

Weiterführende Informationen

 

Literatur

Emanuel Wyler et al. (2024): “Pathogen dynamics and discovery of novel viruses and enzymes by deep nucleic acid sequencing of wastewater.” Environment International, DOI: 10.1016/j.envint.2024.108875

 

Fotos zum Download

Gut gekühlt kamen die Abwasserproben im Max Delbrück Center an. Foto: Felix Petermann, Max Delbrück Center

Die Wissenschaftler*innen filtrierten die bräunliche Brühe, reicherten die Viruspartikel an, die sie dabei fanden, isolierten und sequenzierten das Erbgut der Viren. Foto: Felix Petermann, Max Delbrück Center

Abwasserprobe vor der Sequenzierung. Foto: Felix Petermann, Max Delbrück Center

Der Virenstammbaum zeigt die Verwandtschaftsverhältnisse der bekannten Virengruppen in verschiedenen Farben; die neu im Abwasser entdeckten Viren sind leuchtend hellblau dargestellt. Alle nach außen weisenden Linien stehen für ein virales Genom. Die neu entdeckten Viren mischen sich in die bekannten Gruppen (unterer Teil), bilden aber auch eigenständige neue Gruppen. Abbildung: AG Landthaler, Max Delbrück Center

 

Kontakte

Prof. Dr. Markus Landthaler
Leiter der Arbeitsgruppe „RNA-Biologie und posttranskriptionale Regulation“
Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center
+49 30 9406-3026
markus.landthaler@mdc-berlin.de

Dr. Emanuel Wyler
Wissenschaftler in der Arbeitsgruppe „RNA-Biologie und posttranskriptionale Regulation“
Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center
+49 30 9406-3009
emanuel.wyler@mdc-berlin.de

Jana Schlütter
Redakteurin, Kommunikation
Max Delbrück Center
+49 30 9406-2121
jana.schluetter@mdc-berlin.de or presse@mdc-berlin.de

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Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.