2D-Karte der Genexpression in einem metastasierten Lymphknoten.

3D-Karten kranker Gewebe mit subzellulärer Präzision

Ein Team um Nikolaus Rajewsky vom Max Delbrück Center hat eine frei zugängliche Plattform entwickelt, die Gewebeproben von Patient*innen mit subzellulärer Präzision auswertet. Die molekularen Karten erlauben detaillierte Analysen und können die klinische Pathologie verbessern, heißt es in „Cell“.

Die Arbeitsgruppe um den Systembiologen Professor Nikolaus Rajewsky hat eine Plattform für räumliche Transkriptomik namens Open-ST entwickelt. Die Plattform rekonstruiert die Genexpression in den Zellen eines Gewebes in drei Dimensionen, berichten die Wissenschaftler*innen in „Cell“. Sie generiert diese Karten mit einer so hohen Auflösung, dass molekulare und (sub)zelluläre Strukturen erkennbar sind, die in herkömmlichen 2D-Ansichten oft verloren gehen.

Virtueller Gewebeblock in 3D. Die Farben stehen für das Ablesen ausgewählter Gene.

Open-ST konnte zum Beispiel die Zelltypen aus dem Gewebe von Mäuse-Hirnen mit subzellulärer Auflösung darstellen. Von einem Patienten mit einem Kopf-Hals-Tumor lagen Biopsien aus dem Tumor, aus einem gesunden und einem metastasierten Lymphknoten vor; hier konnte die Plattform die Vielfalt der Immun-, Stroma- und Tumor-Zellpopulationen abbilden. Sie zeigte, dass diese Zellpopulationen an bestimmten Stellen im Primärtumor besonders intensiv miteinander kommunizierten und sich um diese Stellen herum gruppiert hatten. Die Struktur ging allerdings in der Metastase verloren.

Solche Einblicke können Forscher*innen helfen, das Zusammenspiel von Krebszellen und ihrer Umgebung zu verstehen – und möglicherweise aufzudecken, wie der Krebs dem Immunsystem entkommt. Sie können die Daten auch nutzen, um Angriffspunkte für Medikamente zu finden, die auf den jeweiligen Patienten oder die jeweilige Patientin zugeschnitten sind. Die Plattform ist nicht auf Krebs beschränkt; sie kann jedes beliebige Gewebe und ganz unterschiedliche Organismen analysieren.

„Solche Technologien unterstützen die Suche nach Angriffspunkten für Wirkstoffe und die Forschung an neuen Therapien. Davon sind wir fest überzeugt“, sagt Dr. Nikos Karaiskos. Der Wissenschaftler aus der Arbeitsgruppe von Rajewsky am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Centers (MDC-BIMSB) ist korrespondierender Autor der Studie.

Die räumliche Komplexität von Geweben sichtbar machen

Transkriptomik zeigt, welche Gene in einer Zelle oder Zellpopulation gerade abgelesen werden. Doch in der Regel werden keine räumlichen Informationen erfasst. Die räumliche Transkriptomik dagegen misst bei der jeweiligen Gewebeprobe die RNA-Expression im Raum. Open-ST bietet eine kostengünstige, hochaufgelöste und einfach anwendbare Methode, die sowohl die Morphologie des Gewebes berücksichtigt als auch die räumliche Transkriptomik des Gewebeschnitts. Serielle 2D-Karten können so aufeinander ausgerichtet werden, dass ein „virtueller 3D-Gewebeblock“ entsteht.

„Wenn wir das komplexe Zusammenspiel erfassen wollen, das den Verlauf einer Krankheit befeuert, müssen wir zunächst die räumlichen Beziehungen von Zellen in erkranktem Gewebe verstehen“, sagt Nikolaus Rajewsky, der auch Direktor des MDC-BIMSB ist. „Mit den Open-ST-Daten können wir Zell-Zell-Interaktionen systematisch screenen und so die Mechanismen entdecken, die Gesundheit und Krankheit zugrundeliegen. Möglicherweise finden wir so auch Wege, um Gewebe umzuprogrammieren.“

Wir haben hier eine ganz neues Maß der Präzison erreicht.
Prof. Dr. Nikolaus Rajewsky
Nikolaus Rajewsky Direktor des MDC-BIMSB

Die Open-ST-Bilder von Krebsgewebe zeigten zudem potenzielle Biomarker an der dreidimensionalen Grenze zwischen Lymphknoten und Tumorzellen. Sie könnten Angriffspunkte für Medikamente sein. „Diese Strukturen waren in den 2D-Bildern unsichtbar. Sie konnten erst dank der unbeeinflussten Rekonstruktion des Gewebes in 3D erkannt werden“, sagt Daniel León-Periñán, einer der Erstautor*innen der Studie.

„Wir haben hier eine ganz neues Maß der Präzison erreicht“, sagt Rajewsky. „Man kann virtuell zu jeder beliebigen Stelle in der 3D-Rekonstruktion navigieren, um molekulare Mechanismen in einzelnen Zellen oder zum Beispiel an der Grenze zwischen gesunden Zellen und Tumor zu identifizieren. Das ist entscheidend, wenn wir Krankheiten zielgerichtet therapieren wollen.“

Eine kostengünstige und frei zugängliche Technologie

Ein großer Vorteil von Open-ST sind die Kosten. Kommerziell erhältliche räumliche Transkriptomik-Werkzeuge sind teilweise unerschwinglich teuer. Open-ST verwendet dagegen Standardgeräte im Labor und erfasst die RNA effizient. Beides senkt die Kosten erheblich. Forscher*innen können ihre Studien daher auf große Stichprobengrößen ausdehnen und zum Beispiel ganze Kohorten von Patientinnen und Patienten untersuchen.

2D-Karte der Genexpression in einem metastasierten Lymphknoten.

Dem Team liegt eine umfassende Nutzung der Plattform am Herzen und hat daher den gesamten experimentellen und informatischen Workflow frei zugänglich gemacht. „Wichtig zu wissen für die künftige Projekte ist: Die Plattform ist modular aufgebaut. Open-ST kann also an besondere Anforderungen angepasst werden“, sagt León-Periñán. „Sämtliche Werkzeuge sind so flexibel, dass sie entsprechend eingestellt und geändert werden können.“

„Wir wollten eine Methode entwickeln, die nicht nur leistungsfähig ist, sondern auch zugänglich – das ist ganz zentral“, sagt Marie Schott, Technische Assistentin in der AG Rajewsky und eine der Erstautor*innen der Studie. „Wir hoffen, dass wir die Technologie dank der geringeren Kosten und der reduzierten Komplexität demokratisieren können und so den Fortschritt beschleunigen.“

Text: Gunjan Sinha

 

Weiterführende Informationen

Literatur

Marie Schott, Daniel León-Periñán, Elena Splendiani et.al (2024): „Open-ST: High-resolution spatial transcriptomics in 3D.“ Cell, DOI: 10.1016/j.cell.2024.05.055.

 

Fotos zum Download

Virtueller Gewebeblock in 3D. Die Farben stehen für das Ablesen ausgewählter Gene. Foto: AG N. Rajewsky, Max Delbrück Center

2D-Karte der Genexpression in einem metastasierten Lymphknoten. Foto: AG N. Rajewsky, Max Delbrück Center

 

Kontakte

Prof. Dr. Nikolaus Rajewsky
Leiter der Arbeitsgruppe „Systembiologie von Gen-regulatorischen Elementen“
Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center (MDC-BIMSB)


Büro
Alexandra Tschernycheff
+49 30 9406 2999
+49 30 9406 3068
tschernycheff@mdc-berlin.de

Dr. Nikos Karaiskos
Wissenschaftler in der AG „Systembiologie von Gen-regulatorischen Elementen“
Berliner Institutsfür Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Center (MDC-BIMSB)

Nikolaos.Karaiskos@mdc-berlin.de

Gunjan Sinha
Redakteurin, Kommunikation
Max Delbrück Center
+49 30 9406-2118
Gunjan.Sinha@mdc-berlin.de oder presse@mdc-berlin.de

Max Delbrück Center

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.