Michael Gotthardt

Der Perfektionist

Michael Gotthardt erforscht am MDC, wie das Herz-Kreislaufsystem und die Skelettmuskulatur funktionieren. Sein Ziel: das Leben von Patientinnen und Patienten zu verbessern. Dafür will er Medikamente entwickeln, etwa für die Herzschwäche mit erhaltener Pumpfunktion, für die bisher keine effektive Therapie existiert.

Von Haus aus Kardiologe, forscht Michael Gotthardt an neuen Medikamenten – etwa für Patient*innen, die an einer Herzschwäche mit erhaltener Pumpfunktion leiden.

Hastig sprudeln die Worte aus ihm hervor, die ein oder andere Silbe geht im Redefluss unter. Michael Gotthardt ist Anfang 50, schlank, mit graumeliertem Haar, Stoppelbart, Brille. Er eilt über den Gang, öffnet Türen, durchmisst die dahinter liegenden Räume mit langen Schritten, weist auf Geräte, Computerbildschirme, kleine transparente Boxen, in denen sich Mäuse tummeln. Erst draußen, auf einer Bank im Schatten großer Bäume, fällt die Eile fällt von ihm ab.

Unter den etwa 1.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) ist Professor Michael Gotthardt einer der wenigen mit medizinischem Hintergrund. Ursprünglich wollte er Arzt werden, „weil ich mich im Studium nicht für eine Naturwissenschaft allein entscheiden musste. Und weil ich Patientinnen und Patienten helfen konnte“, erzählt er. Den Arztkittel hat er dann an den Nagel gehängt: „Ich hatte das Gefühl, in der Forschung mehr bewegen zu können“. Am MDC untersucht er, wie das Herz auf zellulärer Ebene und im Organismus funktioniert. Sein Ziel: Medikamente zu entwickeln, mit denen Herz-Kreislauf- und Muskelerkrankungen besser behandelt werden können. Erst kürzlich hat er den Arztkittel wieder hervorgeholt, um die der Impf-Initiative am MDC zu unterstützen.

Von der Medizin in die Forschung

Er studierte Medizin in Heidelberg, Berlin und Boston. Sein Interesse galt der Chirurgie, doch nach einer Weile wurde ihm das zu handwerklich. Er begann, parallel in einem Labor zu arbeiten. Das reizte ihn bald mehr als die Arbeit im OP. Insbesondere die Möglichkeiten der Gentherapie hatten es ihm angetan. Krankheiten zu heilen, indem man kaputte Gene repariert – das wollte er auch. Er bewarb sich am MDC für eine Promotion bei Professor Michael Strauss, einem Pionier der Gentherapie von Erbkrankheiten und Krebs. Bei Strauss lernte er unter anderem, Viren zu „Gen-Taxis“ umzubauen, die therapeutische DNA-Sequenzen in Tumorzellen einschleusen können.

Noch während seiner Doktorarbeit zog es ihn in die USA, zunächst in die Abteilung für Molekulare Genetik am Southwestern Medical Center der University of Texas in Dallas. Er arbeitete dort mit genetisch veränderten Mäusen, entwickelte ein Tiermodell, an dem er die Rezeptoren der LDL-Rezeptor-Genfamilie untersuchte. Sie spielen eine wichtige Rolle bei Herz-Kreislauf- und neurodegenerativen Erkrankungen. Die erste eigene Arbeitsgruppe baute er, finanziert von den US-amerikanischen National Institutes of Health, an der Washington State University auf. Ans MDC kehrte er 2002 zurück. In dem Jahr zeichneten ihn die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem Sofja-Kovalevskaja-Award aus – Geld für eine weitere Forschungsgruppe. 2007 bekam er eine W2-Professur „Molekulare Kardiologie“ am MDC und der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Seit 2016 hat er eine W3-Professur für „Experimentelle und Translationale Kardiologie“ inne.

Michael Gotthardt studierte Medizin, um sich nicht für eine einzelne Naturwissenschaft entscheiden zu müssen. Er ging in die Forschung, weil er das Gefühl hatte, dort mehr bewegen zu können.

Michael Gotthardt überlässt nichts dem Zufall. Ein Perfektionist, durch und durch. Der alles von vorne bis hinten plant, immerzu. Für das MDC hat er basierend auf der Software OneNote ein elektronisches Laborbuch entwickelt, um die Dokumentation von Experimenten und Arbeitsbesprechungen zu vereinfachen. In seiner Freizeit fotografiert er gerne, verwendet viel Mühe auf die Bildkomposition. Gleiches gilt für Grafiken in wissenschaftlichen Publikationen. „Mir ist wichtig, dass die Abbildungen aufgeräumt sind. Schön sollen sie aussehen“, sagt er. „Wenn ich sehe, dass da viel Arbeit drinsteckt, gehe ich davon aus, dass die beschriebenen Experimente ebenso sorgfältig geplant und durchgeführt wurden.“

Riesenprotein Titin spielt eine Schlüsselrolle

Viel Arbeit hat seine Arbeitsgruppe beispielsweise in Aufnahmen und in die Biologie des Proteins Titin investiert. Dieses größte Protein im menschlichen Körper spielt eine Schlüsselrolle im Herz- und Muskelgewebe. Die Wissenschaftler*innen markierten das Riesenprotein und konnten es so in Herzen von Mäusen beobachten. Bis dato galt es als starres Rückgrat der Sarkomere, der kleinsten mechanischen Einheit der Muskelzellen, die sich permanent ausdehnen und zusammenziehen. Doch die fluoreszierenden Markierungen offenbarten, dass Titin alles andere als starr ist. Es bildet ein dynamisches Proteinnetzwerk entlang der Sarkomere, wo es aufgrund der mechanischen Belastung verschleißt. Entsprechend wird es ständig neu auf-, ein-, um- und abgebaut und durch neues Titin ersetzt. Mit dieser und anderen Methoden erforscht das Team, wie sich Muskeln nach dem Sport regenerieren, wie sich das besonders elastische Titin in Neugeborenen und das steifere Titin in Erwachsenen unterscheiden oder welche Rolle Titin bei der Entstehung und Behandlung von Herz-Kreislauferkrankungen spielt.

Besprechungen prägen den Arbeitsalltag des Forschers. Zurzeit finden diese oft digital statt.

Auch auf die Herzschwäche mit erhaltener Pumpfunktion (HFpEF) hat das Riesenprotein entscheidenden Einfluss. Dabei nimmt die Dicke der Herzwand zu oder sie lagert Bindegewebe ein, sodass das Herz nicht genug Blut aufnehmen kann. Obwohl es ausreichend pumpt, kann es deshalb den Körper nicht genügend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen. Die Hälfte aller Herzkranken, insbesondere ältere Menschen und Frauen, leiden an dieser Form der Herzschwäche. Bislang gibt es keine effektive Therapie.

Neues Medikament in Aussicht

Das könnte sich bald ändern. Gotthardt und sein Team haben zusammen mit Forschenden der Universität Heidelberg und des US-amerikanischen Unternehmens Ionis Pharmaceuticals einen Wirkstoff entwickelt, der in das alternative Spleißen eingreift, den Prozess, der der Proteinsynthese vorausgeht. Alternatives Spleißen ist ein Trick der Natur, um auf Basis eines einzelnen Gens eine Vielfalt ähnlicher Proteine zu bilden, so wie die verschiedenen Isoformen des Titins. Kontrolliert wird dieser Prozess von Spleißfaktoren. Einen davon, das Protein RBM20, können die Forschenden nun gezielt beeinflussen – mit dem Ergebnis, dass sich elastischere Titine bilden und das Herzmuskelgewebe dehnbarer wird. Den Effekt der Behandlung auf Herzmuskelzellen untersuchte das Team unter anderem an künstlichem Herzgewebe, Engineered Heart Tissue (EHT) genannt, das sie aus induzierten pluripotenten Stammzellen entwickeln. Der rosa-schimmernde Gelklecks ist wie ein Gummiband zwischen zwei Plastikstäbchen aufgespannt, zieht sich abwechselnd zusammen und entspannt sich wieder – ganz so wie Herzmuskelzellen in ihrer natürlichen Umgebung. Die Plastikstäbchen bewegen sich im Takt der Muskelzellen, der aufgezeichnet werden kann. „Der Vorteil des EHT besteht darin, dass es in nahezu identischer Form immer wieder hergestellt werden kann“, erklärt Gotthardt. „So können wir die Anzahl der Tierversuche reduzieren.“

Forschung an Mini-Organen, menschlichem Gewebe oder Multi-Organ-Chips – moderne Technologien versprechen eine Zukunft ohne #Tierversuche. Was ist der aktuelle Stand der #Forschung? Wie funktionieren diese Methoden und wo liegen ihre Grenzen?

Eine moderierte Podiumsdiskussion mit kurzen Filmbeiträgen aus den Laboren widmet sich diesen und weiteren Fragen. Erfahren Sie, wie Berlins #Wissenschaft daran arbeitet, die Forschung im Sinne von #3R – Replace, Reduce, Refine von Tierversuchen – zu verändern und zu verbessern. Auf dem Podium erklären Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des neuen Einstein-Zentrum 3R ihre Forschung. Ziel des Zentrums ist es, zur Entwicklung neuer Therapien für menschliche Erkrankungen beizutragen, indem die Übertragbarkeit von Laborerkenntnissen auf den #Patienten verbessert und gleichzeitig der #Tierschutz gestärkt wird.

Weitere Spleißfaktoren zu identifizieren, die sich als Angriffspunkte für neue Therapien eignen – danach strebt Gotthardt auch in einem internationalen Forschungsnetzwerk, das er zusammen mit Professorin Leslie Leinwand von der Universität Boulder, Colorado, koordiniert. Die Leducq Foundation unterstützt das Vorhaben mit sieben Millionen US-Dollar. „Wir wollen unter anderem den Weg hin zum Medikament aufzeigen und eine Datenbank aufbauen, mit der man künftig die komplexen Spleißinformationen leichter in die Diagnostik von Herzerkrankungen einbeziehen kann“, erklärt der Wissenschaftler.

Künstliches Herzgewebe kann gegen einen Widerstand kontrahieren und entspannen.

Auch sein persönliches Highlight hat mit Titin zu tun: Michael Gotthardt hat es erstmals geschafft, auf molekularer Ebene einen Blick auf den arbeitenden Muskel zu erhaschen. Mit seinem Team schuf er eine Maus, in deren Titin die Wissenschaftler*innen ein künstliches Enzym namens BioID einfügten. Mit diesem Titin-BioID können sie Proteine innerhalb von Herz- und Skelettmuskelzellen markieren und verfolgen. Forschende können damit möglicherweise ein präziseres Modell des Sarkomers entwickeln und die Mechanismen genauer untersuchen, die Muskelschäden, Muskelerkrankungen oder altersbedingtem Muskelschwund zugrunde liegen.

Brücke zwischen Forschung und Klinik

Ich überlege mir sehr genau, in welche Themen ich Arbeit und Zeit investiere. Ich will nämlich noch ein, zwei oder drei Medikamente entwickeln.
Michael Gotthardt
Michael Gotthardt Leiter der AG „Neuromuskuläre und kardiovaskuläre Zellbiologie"

Während seiner gesamten Laufbahn hat Michael Gotthardt immer versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen Forschung und Klinik. Zusammen mit dem Entwicklungsbiologen Professor Salim Seyfried hatte er deshalb am MDC die TransCard Helmholtz Research School zur Verbesserung der Doktorandenausbildung auf die Beine gestellt. Die Doktorandinnen und Doktoranden hospitierten regelmäßig im Krankenhaus, „weil es einen riesigen Unterschied macht, die Pumpkraft des Herzens in einem Tiermodell zu messen oder direkt vom Patienten zu erfahren, wie stark ihre Herzerkrankung sie einschränkt.“ Er plant, die Doktorandenausbildung im Sonderforschungsbereich zur Herzschwäche, den er zusammen mit seinem klinischen Partner Professor Burkert Pieske von der Charité – Universitätsmedizin Berlin koordiniert, ähnlich auszurichten.

Ideen kommen ihm ständig, zum Beispiel beim Fahrradfahren, wenn das Surren der Räder auf dem Asphalt die Gedanken in seinem Kopf wie eine Filmmusik untermalt. Dann schmiedet er Pläne. „Ich überlege mir sehr genau, in welche Themen ich Arbeit und Zeit investiere“, sagt er. „Ich will nämlich noch ein, zwei oder drei Medikamente entwickeln.“

Text: Jana Ehrhardt-Joswig

 

Weitere Informationen