📺 Die wöchentliche Dosis medizinische Literatur

Fred Lufts Clinical Journal Club ist seit 20 Jahren eine Institution auf dem Campus. Er durchforstet Fachzeitschriften, fasst Inhalte zusammen, erstellt Folien und schreibt eine Vorschau, die an die Mitarbeitenden von MDC und Charité geht.

Bei einem Fall geht es um einen Mann in den mittleren Jahren, der Schmerzen knapp über dem Handgelenk hatte. Sein Arzt machte eine Röntgenaufnahme und bemerkte am unteren Teil der Elle, dem kleineren der beiden Unterarmknochen, einen seltsamen Substanzverlust. Nachdem er einige mögliche Ursachen erwogen hatte, beschloss der Arzt, auf Nummer sicher zu gehen und den anderen Arm ebenfalls zu röntgen. Überrascht stellte er fest, dass die andere Seite denselben Defekt aufwies.

Prof. Fred Luft. Bild: Maj Britt Hansen.

Es ist ein später Mittwochnachmittag, und Prof. Friedrich C. Luft verbringt ihn so, wie er das mit wenigen Ausnahmen seit 20 Jahren tut. Fred rief den Clinical Journal Club (CJC) ins Leben, kurz nachdem er an MDC und Charité Positionen als Leiter von Forschungsgruppen zum Thema Blutdruck angetreten hatte. Eigentlich wollte er einen typischen Journal-Club gründen, in dem die Teilnehmer wichtige Veröffentlichungen aus Fachzeitschriften lesen und den anderen vorstellen. Niemand hat die Zeit, die gesamte wichtige Literatur eines Fachgebiets zu lesen, und mit einem Journal-Club kann man die Arbeit einfach untereinander aufteilen. Innerhalb weniger Wochen jedoch wurde Fred klar, dass das traditionelle Format hier nicht funktionieren würde. Und er hatte durchaus Verständnis für die Gründe.

„Die Medizinstudenten und Kliniker hatten so viel zu tun, dass sie einfach keine Zeit für die Vorbereitung von Vorträgen fanden“, berichtet er. „Sie hatten nicht einmal genügend Zeit für die beiden Zeitschriften, die wirklich alle Kliniker lesen sollten, das New England Journal of Medicine und Lancet. Ich dachte mir also, am besten mache ich das für sie.“

Und so durchforstet Fred Luft seit zwei Jahrzehnten gewissenhaft beide Fachzeitschriften, fasst Inhalte zusammen, erstellt Folien und schreibt eine Vorschau, die an die Mitarbeitenden von MDC und Charité geht. Wer also dort arbeitet und diese Mails noch nie gesehen hat, hat wirklich etwas verpasst. Sie kündigen den kommenden Mittwochstermin an (der je nach Freds Stimmung „toll“, „fantastisch“, „aufregend“, „umwerfend“ oder „verblüffend“ sein wird). Es sind knappe Zusammenfassungen von viel Material, durchsetzt mit den ironischen und sarkastischen Kommentaren, für die Fred bekannt ist – sie halten seinen Blutdruck unten.

Kürzlich etwa schrieb er in einer Mail über eine Kritik zum Thema „Gewalt am Arbeitsplatz gegen Gesundheitsversorgungszulieferer“: „Ich schätze, es ist nicht mehr politisch korrekt, die Leute einfach als Ärzte und Krankenschwestern zu bezeichnen … Interessanterweise greift Gewalt gegen Ärzte vor allem in China stark um sich. Wohl zu wenig Tai Chi.“

Wenn er seine Vorbereitungen konzentriert in einem Zug erledigen kann, braucht er nach eigenen Angaben nur gut einen halben Tag. Er macht das möglichst am Wochenende, denn am Mittwoch muss er bereit sein für seine One-Man-Show. Zunächst gibt es meist ein Rätsel aus der letzten Ausgabe von NEJM – ein Röntgenbild oder andere Aufnahme eines echten Patienten, die schwierig zu diagnostizieren ist. Das Publikum wirft Ideen in den Raum und verwirft sie wieder, und irgendwann führt Fred es zur Lösung. Dann geht es weiter zur nächsten Folie und dem ersten Artikel, den er anhand einiger der dort genannten Daten und Tabellen zusammenfasst.

Zwar ändern sich die Geschichten jede Woche, dennoch gibt es bestimmte Leitmotive in Form breiterer Themen. Eines ist der Versuch, brandneue Entdeckungen zu molekularen Ursachen von Erkrankungen mit Beobachtungen und Praxis in der Medizin zu verbinden. Sind mit „Omics“-Technologien erzielte Diagnosen wirklich besser als die anhand jahrzehntelanger Erfahrung und sorgfältiger Patientenbeobachtung gestellten? Nicht unbedingt. Wenn er über Arzneimittelstudien berichtet, stellt Fred immer eine Verbindung her zwischen der Krankheit, den zugrunde liegenden Mechanismen und dem Wirkmechanismus der Arznei. Was nicht immer einfach ist.

Beim Journal Club sind in der Regel mindestens ein Dutzend Teilnehmer dabei, manchmal auch mehr. In jüngster Zeit gab es für den CJC eine Medienexpansion: Er wird nun regelmäßig über Webex verbreitet, sodass Fred seine Show auch von unterwegs abliefern kann, und seit einigen Ausgaben auch auf YouTube veröffentlicht. Auf der CJC Website findet sich eine Anleitung, wie sich die Show als Livestream ansehen lässt.

Besucher von der molekularen Seite der Biomedizin müssen sich allerdings auf einen leichten Kulturschock gefasst machen: Die meisten Teilnehmer tragen die typischen weißen Arztkittel und sprechen einen anderen Fachjargon. Wer nie Anatomie gepaukt, eine Chirurgieausbildung genossen oder die Etiketten gängiger Arzneimittel studiert hat, verliert vielleicht manchmal den Faden. Hilfreich ist auch ein Verständnis der Kriterien, nach denen bei klinischen Studien Patientengruppen eingeteilt und Kontrollgruppen erstellt werden – ansonsten ist die Diskussion schon beim nächsten Thema angelangt, ehe Sie die Aufstellungen verstanden haben.

Einige Teilnehmer sind treue Fans, die praktisch seit Beginn dabei sind. Sie sind Fred überallhin gefolgt – seit den ersten Treffen im alten Virchow-Klinikum, auf dem früheren Campus am anderen Ende von Buch. Als der vor etwa zehn Jahren geschlossen wurde, zog die Gruppe auf den MDC-Campus um. Und nun zu Beginn des dritten Jahrzehnts kam kürzlich ein neuer Umzug in einen Seminarraum im HELIOS-Klinikum, denn hier arbeiten die meisten der Teilnehmer.

Der Weg über die Straße zum MDC würde nur wenige Minuten dauern, aber für das Publikum des CJC ist Zeit das kostbarste Gut. Und neben dem Wissen und der jahrzehntelangen Erfahrung, die Fred Luft in den CJC einbringt, ist dessen wirklicher Wert all die Zeit, die er über Wochen, Monate und Jahre aufgebracht hat. Ohne den Club hätte jeder Teilnehmer mindestens ebenso viel Zeit aufwenden müssen, um die Literatur zu lesen. Vorsichtig geschätzt, hat Fred wahrscheinlich in zwei Jahrzehnten mindestens 450 Tage dafür eingesetzt und damit einer ganzen Generation von Ärzten und Wissenschaftlern ein wahrhaft großes Geschenk gemacht.