Offene Worte von Transgender-Wissenschaftler*innen
Bisherige Bemühungen um Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion berücksichtigen häufig nicht die Bedürfnisse von Transgender-Wissenschaftler*innen. So lautete das Urteil eines Kommentars, den Professorin Sofia Kirke Forslund-Startceva, Gruppenleiterin der Arbeitsgruppe „Wirts-Mikrobiom Faktoren in Herz-Kreislauferkrankungen“ am Max Delbrück Center, mitverfasst hat. Der Kommentar wurde in einer Sonderausgabe der Zeitschrift „Cell“ zum Thema biologisches Geschlecht und Gender im März 2024 veröffentlicht.
Da derzeit in mehreren Ländern Gesetze und Richtlinien umgesetzt werden, die die Rechte von Transmenschen einschränken, indem man ihnen beispielsweise den Zugang zur Gesundheitsversorgung, rechtliche Anerkennung oder Rechtsmittel gegen Diskriminierung verwehrt, schien es der geeignete Moment, diesen Artikel zu schreiben, sagt Forslund. Der Text wurde von insgesamt 24 Transgender-Wissenschaftler*innen verfasst und beschreibt die Hürden, die in den Naturwissenschaften, in Technologie, Ingenieurwesen, Mathematik und Medizin der uneingeschränkten Teilhabe dieser Wissenschaftler*innen im Wege stehen. Obwohl sich Forslund in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn weitgehend unterstützt und respektiert gefühlt hat, haben viele Transgender-Wissenschaftler*innen nicht so viel Glück. Sie sind häufig Belästigung, Diskriminierung und einer verstärkten Kontrolle ihres professionellen Auftretens und Verhaltens ausgesetzt, was zu einem feindseligen Arbeitsumfeld beiträgt und ihre Aufstiegschancen mindert.
Die Wissenschaftler*innen fordern systemische Veränderungen, um die Inklusion zu verbessern. Sie schlagen auch vor, dass Kolleg*innen ihre Transgender-Kollegen*innen unterstützen, und sich für institutionelle und politische Veränderungen einsetzen. Im Rahmen der Pride Month-Veranstaltungsreihe in Berlin, die der LGBTQIA+-Community eine Diskussionsplattform bieten soll, haben wir Forslund zu ihrer Teilnahme an dem Kommentar interviewt.
Wie kam es zu Ihrer Beteilung an diesem Kommentar?
Sofia Forslund: Ich kenne viele der Autor*innen seit Jahren. Wir haben uns über Twitter (jetzt X) in einer besseren Zeit gefunden. Lexy von Diezmann (ebenfalls Autorin) kennt den Herausgeber von „Cell“ und dort war man auf der Suche nach Artikeln für die Sonderausgabe zum Thema biologisches Geschlecht und Gender. Lexy hat sich an die trans- und nichtbinären Wissenschaftler*innen gewandt, die sie kannte. Und dann gab es eine Reihe von Videokonferenzen über Kontinente hinweg, um Ideen zu sammeln.
Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, Sie hätten sich auf Twitter „in einer besseren Zeit“ kennengelernt?
Sofia Forslund: Als es noch keine Plattform war, die ein Wort wie „cisgender“ ausdrücklich als Hassrede zensierte. Musk hat eigens erklärt, dass dieser Begriff in Posts von X nicht erlaubt ist. Das wird zwar nicht konsequent durchgesetzt, wie rein gar nichts dort konsequent durchgesetzt wird. Aber es ist ein Zeichen dafür, welche Botschaft die Plattform vermitteln will, und es beeinflusst und ermutigt Fanatiker auf der Plattform. Ich habe es auch mit anderen Plattformen versucht, aber die Algorithmen vieler dieser Plattformen leiten mich zu Inhalten weiter, die manchmal sehr toxisch, scheinheilig und anzüglich sind. So möchte ich meine Zeit nicht verbringen. Außerdem ist keine dieser Plattformen mit der Online-Community vergleichbar, die wir einmal hatten. Ich habe meine Präsenz in den sozialen Medien daher drastisch reduziert.
„Der Originaltext war viel wütender“
Kommen wir auf den Kommentar zurück: Waren Sie mit dem Endergebnis zufrieden?
Sofia Forslund: Der Schreibprozess war ziemlich turbulent. Viele der Mitwirkenden hätten sich einen radikaleren Beitrag gewünscht. Wir stellten zwar eine Vielzahl von Perspektiven dar, aber so manche*r hatte gehofft, dass sich der Beitrag stärker mit globalen Ungleichheiten, mit Rassismus und mit dem aufkommenden Faschismus befasst. Ganz allgemein hätten wir gewollt, dass der Text intersektionaler wird und die Ursachen der Machtstrukturen, in denen die Menschen leben, tiefergehend analysiert.
Können Sie das etwas näher erläutern?
Sofia Forslund: Die Repressalien, denen Menschen ausgesetzt sind, rühren zu einem Großteil nicht nur daher, dass sie trans sind, sondern beispielsweise auch von komplizierteren Überschneidungen zwischen Transidentität und einer bestimmten Klasse oder Rasse. Außerdem ist es problematisch, dass viele Begriffe und Schwerpunkte den westlichen Diskurs widerspiegeln und außer Acht lassen, wie sich dieser von Erfahrungen in anderen Teilen der Welt unterscheiden können.
Weshalb wurde letztlich die mildere Textversion veröffentlicht?
Sofia Forslund: Das Journal war nur teilweise mit der radikaleren Version einverstanden, und es gab Meinungsverschiedenheiten innerhalb unserer Gruppe darüber, ob wir unseren Beitrag anpassen oder besser zurückziehen sollten. Wir hatten den Eindruck, dass die Zeitschrift lieber etwas veröffentlicht hätte, das den Institutionen das Gefühl gibt, dass sie gute Arbeit leisten und dass sie diese gute Arbeit auch weiterhin leisten sollten. Aber das haben wir nicht geschrieben, und so kam es zu Spannungen. Unser Originaltext war viel wütender. Letztlich bin ich aber eigentlich ganz zufrieden mit der veröffentlichten Version. Ich denke, sie erfüllt auch ihren Zweck.
Haben Sie oder die anderen Autoren viel Rückmeldung zum Kommentar erhalten?
Sofia Forslund: Ich gehe davon aus, dass er geteilt und diskutiert wird. Da ich meine Präsenz in den sozialen Medien jedoch stark reduziert habe, weiß ich es nicht genau. Einige der Autor*innen wurden um Interviews gebeten. Auch ich verweise immer wieder auf den Artikel und ich beziehe mich in einigen Texten, darunter auch Förderanträge, darauf.
Plant die Community noch weitere Aktionen für mehr Aufmerksamkeit?
Sofia Forslund: Einige von uns bereiten eine Sitzung für die World Professional Association For Transgender Health (WPATH) Ende September in Lissabon vor. Dort werden ähnliche Themen wie in dem Kommentar behandelt. Aber es wird auch darauf eingegangen, wie Studien auf eine größere Vielfalt von Proband*innen und Patient*innen einbeziehen können und sollten. Dies ist eine weitere Möglichkeit, die Gesundheit von Transgender-Menschen in den Fokus zu rücken. Im Zuge der Arbeit an dem Kommentar haben wir neue Kontakte geknüpft und in diesem Prozess ergab sich die Verbindung zur WPATH. Außerdem planen wir, die radikalere Version des Kommentars auf einem Preprint-Server zu veröffentlichen. Irgendwann wird es eine ausführlichere Version geben. Bleiben Sie dran!
Text: Gunjan Sinha