Claus Scheidereit

Vom Grundlagenforscher zum Medikamentenentwickler

Fast seit drei Jahrzehnten erforscht Claus Scheidereit am MDC einen Genschalter, der eine entscheidende Rolle bei bestimmten Tumorerkrankungen spielt. Seine Zeit als Forschungsgruppenleiter ist nun vorbei. Gleichzeitig steht er kurz davor, neue Krebsmedikamente zu entwickeln.

„Ruhestand ist unmöglich“, sagt Professor Claus Scheidereit. Nach 27 Jahren stellt zwar seine Forschungsgruppe „Signaltransduktion in Tumorzellen“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) ihre Arbeit ein. Doch Claus Scheidereit macht weiter. Seit Jahrzehnten erforscht er eine Gruppe von Genregulatoren, NF-κB genannt (sprich: NF-kappaB). Sie steuern zelluläre Prozesse während der Embryonalentwicklung, aber auch bei der Entstehung von Krankheiten, etwa bei verschiedenen Lymphomen. Mit den Ergebnissen seiner Grundlagenforschung steht Claus Scheidereit nun an der Schwelle zur klinischen Anwendung: Der Zellbiologe will neue Krebsmedikamente entwickeln.

Viele Tumore können mit Chemo- und Strahlentherapien zunächst wirkungsvoll bekämpft werden. „Doch Tumorzellen können diesen Therapien entgehen, indem sie einen Signalweg aktivieren, der das Absterben der Tumorzellen verhindert“, erklärt Claus Scheidereit. Kommt es in der DNA der Krebszellen aufgrund der Chemo- oder Strahlentherapie zu Doppelstrangbrüchen, wirft NF-κB ein zelluläres Überlebensprogramm an. NF-κB wird dabei von einem Enzym namens IκB-Kinase aktiviert.

Erfindungsmeldung liegt dem Technologietransfer vor

Claus Scheidereit ist ein Forscher mit Leib und Seele.
Dr. Michael Hinz
Michael Hinz Nachhaltigkeitskoordinator am MDC

Diese Kinase und damit NF-κB ausschalten, ist nicht ohne weiteres möglich. „NF-κB hat viele physiologische Funktionen, man braucht es also auch, um gesund zu bleiben. Eine generelle Blockade würde gravierende Nebenwirkungen haben“, erläutert der Forscher. Mit seinem Team hat er zwei chemische Substanzen identifiziert, die den IκB-Kinase/NF-κB-Signalweg selektiv blockieren können – nämlich genau in den Zellen, die durch eine Chemo- oder Strahlentherapie angeschlagen sind. So läuft das Reparaturprogramm dort nicht an, die Zellen sterben ab. „Ich hoffe, dass dieser Ansatz zu einer neuen Wirkstoffklasse führt, die die Effekte von Chemo- und Strahlentherapien unterstützt“, sagt der Forscher. Eine der Substanzen ist bereits patentiert, für die andere hat er gerade die Erfindungsmeldung beim Technologietransfer des MDC eingereicht.

„Claus Scheidereit ist ein Forscher mit Leib und Seele“, sagt Dr. Michael Hinz, mehrere Jahre Mitarbeiter in Scheidereits Arbeitsgruppe, heute Nachhaltigkeitskoordinator am MDC. Gemeinsam haben sie mehrere Publikationen veröffentlicht. „Ich erinnere mich gerne zurück an gemeinsame Abende in seinem Büro, wenn wir am Feinschliff von Manuskripten gearbeitet und jedes einzelne Wort umgedreht haben.“ Scheidereits Arbeitsgruppe kollaborierte viele Jahre mit Kliniker*innen des MDC. Für die Entschlüsselung der molekularen Mechanismen des Hodgkin-Lymphoms erhielt er 2005 zusammen mit Professor Bernd Dörken von der Charité – Universitätsmedizin Berlin den Deutschen Krebspreis.

Mit dem Alter kommt die Demut

1954 in Schleswig geboren, hatte Claus Scheidereit ursprünglich etwas ganz anderes als Wissenschaft im Sinn. Im Alter von 17 Jahren wollte er Pilot werden, scheiterte jedoch letztlich an einer leichten Farbsehschwäche. Sein Klassenlehrer fand das gut. Fliegen sei doch nichts anderes als Busfahren, nur eben in der Luft, sagte er dem jungen Mann. Claus Scheidereit wartete zunächst auf einen Studienplatz für Medizin, entschied sich aber schließlich für ein Studium der Chemie und Biochemie. „Ich war begeistert von der Idee, den Dingen auf den Grund gehen und wirklich alles erklären zu können“, erinnert sich der 67-Jährige. „Heute bin ich da etwas demütiger.“ Es zog ihn an die Philipps-Universität Marburg, „sehr guter Fachbereich, eine quirlige Stadt, sehr viele Studenten, das hat mir gut gefallen.“

Sein Doktorvater Professor Miguel Beato stieß die Tür zu einer ganz neuen Welt für ihn auf: die Molekularbiologie, die Anfang der 80er Jahre gerade aufkam. In seiner Doktorarbeit beschrieb er, dass die Rezeptorproteine für Steroidhormone spezifische DNA-Sequenzen in Genen erkennen, was in der Fachwelt einiges an Aufsehen erregte. Dies war der Beginn seiner langjährigen Forschung an der Genregulation.

Von Marburg nach Manhattan

Das Laborgebäude in der Harnackstraße, wo der Claus Scheidereit am Max Planck Institut für Molekulare Genetik in den 90er Jahren in Dahlem arbeitete, existiert heute nicht mehr.

Mit einer Reihe von Publikationen und dem Doktortitel in der Tasche ließ er die verwinkelten Gassen des hessischen Fachwerkstädtchens hinter sich und ging an die Rockefeller University nach New York. Im Labor von Professor Robert G. Roeder erforschte er, wie die Transkription gen- und zelltypspezifisch reguliert wird. Im 15. Stock des Rockefeller Tower Buildings, mit Blick auf den East River, gelang es ihm und seinen Kollegen erstmals, den Transkriptionsfaktor NF-κB zu identifizieren. Daneben entdeckte er weitere Faktoren, die dafür sorgen, dass die in den Genen enthaltenen Baupläne für Proteine umgesetzt werden. „Tausende von Molekülen sind dafür zuständig, die entsprechenden Signale in und zwischen den Zellen zu übertragen. Viele der Moleküle und die zugrundeliegenden Mechanismen sind nicht bekannt. Deshalb finde ich es so faszinierend“, sagt er.

1988 bekam er das Angebot, im Zentrum für Molekulare Neurobiologie in Hamburg eine Arbeitsgruppe aufzubauen; auch nach Heidelberg ans Europäische Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) hätte er gehen können. Nach drei Jahren in Manhattan zog es ihn aber nach Berlin. Seine Frau und er sind Großstädter durch und durch, „es war uns sehr wichtig, dass die nächste Sushi-Bar gleich um die Ecke ist“, sagt er. In Berlin leitete er zunächst eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut (MPI) für Molekulare Genetik, bevor er 1994 als Forschungsgruppenleiter ans MDC berufen wurde. Am MDC koordinierte er von 2009 bis 2020 das Krebsforschungsprogramm und war Sprecher für Krebsforschung der Helmholtz-Gesellschaft. Bis 2021 hielt er als außerplanmäßiger Professor Seminare und Vorlesungen am Fachbereich Biochemie der Freien Universität Berlin.

Im Auto mit Thomas Sommer

2013 hob er das deutsch-israelische Doktorandenprogramm „Frontiers in Cell Signaling and Gene Regulation“ (SignGene) aus der Taufe. Die Dissertationen waren jeweils Tandemprojekte zwischen kooperierenden Gruppen in Berlin und Israel. Neben dem MDC waren die Humboldt-Universität, die Charité, das Technion – Israel Institute of Technology — in Haifa und die Hebrew University of Jerusalem beteiligt. Die Idee dazu entstand während einer gemeinsamen Autofahrt mit Professor Thomas Sommer, dem heutigen kommissarischen Wissenschaftlichen Vorstand des MDC. Die beiden Wissenschaftler sind jahrelang morgens gemeinsam ans MDC und abends wieder zurück in die Stadt gefahren.

Unsere Freundschaft begann mit einem Misserfolg. Das hat ihr jedoch nicht geschadet.
Thomas Sommer kommissarischer Wissenschaftlicher Vorstand des MDC

Sie lernten sich 1993 kennen, als Claus Scheidereit noch am MPI war. Thomas Sommer erforscht mit seiner Arbeitsgruppe, wie fehlgefaltete Proteine durch das Ubiquitin-Proteasom-System aus der Zelle entfernt werden – ein Prozess, der auch beim Abbau der IκB-Proteine eine Rolle spielen sollte. Gemeinsam wollten sie herausfinden, ob dieser Mechanismus genutzt werden kann, um NF-κB anzuschalten. Sie begannen mit ihren Experimenten – da erschien plötzlich eine Publikation zu genau diesem Prozess in „Cell“. Eine andere Arbeitsgruppe in den USA war kurz vor ihnen auf die gleiche Idee gekommen. „Unsere Freundschaft begann also mit einem Misserfolg“, resümiert Thomas Sommer. „Das hat ihr jedoch nicht geschadet.“

Team-Geist ist ihm sehr wichtig

Neben wissenschaftlicher Exzellenz – für Claus Scheidereit das allerwichtigste Kriterium – ist in seinen Augen eine gute Stimmung im Team wichtig, um Projekte erfolgreich durchzuführen. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit seiner Sekretärin Daniela Keyner. „Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie sich immer so engagiert um alles Mögliche gekümmert hat“, unterstreicht er. Seinen Mitarbeiter*innen hat er Freiräume gelassen, hatte aber stets ein offenes Ohr, wenn mal etwas nicht so gut lief. „Ich bin nicht besonders konfliktfreudig“, sagt er über sich. „Ich sorge lieber für Arbeitsbedingungen, in denen es gar nicht erst zu Konflikten kommt.“ Etwa 30 Doktorand*innen sowie eine Anzahl von Postdoktorand*innen starteten ihre wissenschaftliche Karriere bei Claus Scheidereit. Mehr als zehn der Alumni leiten mittlerweile ihre eigene Forschungsgruppe, die anderen haben ebenfalls interessante wissenschaftliche Karrieren gemacht. Zu vielen hält er noch Kontakt, „das sind einfach alles tolle Leute, ich freue mich darüber so sehr.“

Chemiker kochen nun mal

Ob seine Frau Recht behält mit ihrer Prognose, dass er arbeitet, bis er irgendwann umfällt? „Ich will unbedingt noch die Weiterentwicklung dieser Medikamente begleiten“, antwortet er. „Wenn ich mir vorstelle, dass es Patient*innen gibt, die davon profitieren können, wäre es schade aufzuhören.“ Seine Frau ist Kunsthistorikerin, gemeinsam gehen sie häufig in Ausstellungen, Konzerte oder ins Kino, oft auch in Restaurants. „Claus Scheidereit ist der beste Restaurantkenner Berlins. Ich hoffe, er schreibt eines Tages ein Buch darüber“, sagt Michael Hinz. Scheidereit arbeitet aber auch sehr gern selbst in der Küche, „ich liebe es, die Speisen zuzubereiten. Dabei kann ich am besten entspannen“, erzählt er. „Ich fing nun einmal als Chemiker an. Chemiker kochen.“

Text: Jana Ehrhardt-Joswig

 

Weitere Informationen