Zweite Chance für das Sumatra-Nashorn
Einst war das Sumatra-Nashorn in weiten Teilen Ost- und Südostasiens verbreitet. Heute leben nur noch wenige Dutzend Exemplare dieser kleinsten und ursprünglichsten Nashornart in den Regenwäldern Sumatras und des indonesischen Teils der Insel Borneo. Wilderei und die Zerstörung ihres Lebensraums haben den meisten Tieren den Garaus gemacht. Paarungsbereite Nashörner finden nur schwer zusammen.
Die Letzen ihrer Art in Malaysia
In Malaysia gilt das Sumatra-Nashorn, die einzige behaarte Nashornart, seit dem Tod des Bullen Kertam im Jahr 2019 und der Kuh Iman, die ihn nur wenige Monate überlebte, als ausgestorben. Damit geben sich Berliner Forscher*innen um Dr. Vera Zywitza und Dr. Sebastian Diecke, Leiter der Technologieplattform „Pluripotente Stammzellen“ am Berliner Max Delbrück Center, und ihre internationalen Kooperationspartner nicht zufrieden. Ihr ehrgeiziges Ziel: Sie wollen Hautzellen verstorbener Nashörner zunächst in Stammzellen verwandeln und aus diesen wiederum Ei- und Samenzellen züchten, die sich für die assistierte Reproduktion, in diesem Fall die Befruchtung im Labor, eignen. Tierische Leihmütter sollen die in der Petrischale entstehenden Nashorn-Embryonen dann austragen – als Nachkommen von Kertam und anderer schon verstorbener oder unfruchtbarer Tiere.
In der Fachzeitschrift „iScience“ vermeldet das Team um die Erstautorin Zywitza und den Letztautor Diecke nun einen ersten Erfolg: Es sei gelungen, aus den Hautproben von Kertam induzierte pluripotente Stammzellen, kurz iPS-Zellen, zu generieren. Diese Zellen haben zwei entscheidende Vorteile. Zum einen sind sie unsterblich, da sie sich immer wieder aufs Neue teilen können. Zum anderen sind sie in der Lage, sich in jede beliebige Zellart des Körpers zu verwandeln. Mini-Gehirne (Hirn-Organoide) hat die Gruppe für ihre jetzt publizierte Studie bereits aus ihnen gezüchtet.
Vom Breitmaulnashorn abgeschaut
Die Technologieplattform hat die Methoden zur Stammzellgewinnung im Rahmen des Forschungsprojekts „BioRescue“ für das noch stärker bedrohte Nördliche Breitmaulnashorn entwickelt, von dem weltweit nur noch zwei Weibchen in einem kenianischen Wildtierreservat leben. „Unsere aktuelle Studie hat viel von den Erkenntnissen profitiert, die durch dieses vom Bundesforschungsministerium geförderte Großprojekt gewonnen wurden“, sagt Zywitza. Maßgeblich beteiligt waren zudem Professor Thomas Hildebrandt, Leiter der Abteilung Reproduktionsmanagement am Leibniz-Institut für Zoo und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in Berlin, und seine Arbeitsgruppe.
Alle an der Studie Beteiligten seien überrascht und erfreut gewesen, dass die Methoden, mit denen man die Hautzellen der Nördlichen Breitmaulnashörner in Stammzellen verwandelt habe, auch bei den Zellen des Sumatra-Nashorns gut funktioniert hätten, sagt Zywitza. Unter dem Mikroskop seien die Stammzellen beider Nashornarten kaum von menschlichen iPS-Zellen zu unterscheiden. Artspezifische Unterschiede gab es trotzdem: „Die iPS-Zellen von Kertam konnten wir beispielsweise – anders als die der Nördlichen Breitmaulnashörner – nicht ohne Ammenzellen kultivieren, die Wachstumsfaktoren freisetzen. Sie helfen, Stammzellen in einem pluripotenten Zustand zu halten“, erläutert Zywitza.
Tiefer Blick in die Evolution
Neben dem Erhalt der Art dienen die aus der Haut von Kertam gewonnenen Stammzellen noch einem weiteren Zweck: „Anhand von iPS-Zellen exotischer Tiere können wir einzigartige Einblicke in die Evolution der Organentwicklung gewinnen“, sagt Zywitza. Um das zu zeigen, hat Dr. Silke Frahm-Barske, die ebenfalls zur Arbeitsgruppe von Diecke gehört, aus den Zellen Hirn-Organoide gezüchtet.
„Soweit wir wissen, wurden solche Mini-Gehirne bisher nur aus iPS-Zellen von Mäusen, Menschen und nichtmenschlichen Primaten gewonnen“, sagt Frahm-Barske. „Daher waren wir sehr froh, dass sich aus den von uns erzeugten Stammzellen eines Sumatra-Nashorns Organoide bildeten, die denen des Menschen recht ähnlich sind.“ Allerdings habe das Team die iPS-Zellen von Mensch und Nashorn leicht unterschiedlich behandeln müssen, um die Gehirne im Miniaturformat zu erzeugen, ergänzt die Forscherin.
Spermien nur über Umwege
Das nächste Ziel des Teams ist es nun, aus Kertams iPS-Zellen Samenzellen zu züchten, die sich für eine künstliche Befruchtung eignen. „Dieser Schritt ist allerdings schwieriger“, sagt Zywitza. „Um Spermien zu gewinnen, ist es erforderlich, aus den iPS-Zellen zunächst primordiale Keimzellen, die Vorläufer von Ei- und Samenzellen, zu generieren.“ Diese kniffelige Aufgabe solle jetzt angegangen werden. Darüber hinaus sei geplant, auch von anderen Sumatra-Nashörnern iPS-Zellen herzustellen.
Warum ein solcher Aufwand nötig ist, erklärt der Fortpflanzungsexperte Thomas Hildebrandt: „Zwar gibt es in Indonesien Bemühungen, den Bestand zu sichern, indem die noch vorhandenen Sumatra-Nashörner in Wildtierreservaten zusammengebracht werden. Doch Weibchen, die lange Zeit nicht trächtig waren, werden oft unfruchtbar, zum Beispiel durch Zysten an ihren Fortpflanzungsorganen“, sagt er. Oder sie seien für Nachwuchs inzwischen schlicht zu alt.
„Auch wenn unsere Arbeit versucht, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen, nämlich Arten zu erhalten, die ansonsten vermutlich von unserem Planeten verschwinden würden, muss sie eine Ausnahme bleiben und darf nicht zur Regel werden“, sagt Zywitza. „Trotz aller Begeisterung: Was wir im Labor tun, kann allenfalls ein kleines Stück weit dazu beitragen, die Nashörner vor dem Aussterben zu retten.“ Ebenso wichtig sei definitiv, die noch vorhandenen Lebensräume der Tiere zu schützen und zu bewahren.
Text: Anke Brodmerkel
Weiterführende Informationen
Literatur
Vera Zywitza et al (2022): „Induced pluripotent stem cells and cerebral organoids from the critically endangered Sumatran rhinoceros“. In: iScience, DOI: 10.1016/j.isci.2022.105414
Fotos zum Download
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Sumatra-Nashorn Kertam auf der Insel Borneo.
Foto: Ben Jastram, Leibniz-IZW -
Das Hirn-Organoid eines Nashorns ist einen Monat alt. In der mikroskopischen Querschnitt-Aufnahme sind Vorläuferzellen von Nervenzellen in Rot zu sehen. Fertige Nervenzellen sind grün gefärbt.
Foto: Silke Frahm-Barske, Max Delbrück Center
Kontakte
Dr. Vera Zywitza
Wissenschaftlerin, Technologieplattform „Pluripotente Stammzellen“
Max Delbrück Center
vera.Zywitza@mdc-berlin.de
Jana Schlütter
Redakteurin, Abteilung Kommunikation
Max Delbrück Center
+49 30 9406 2121
jana.schluetter@mdc-berlin.de oder presse@mdc-berlin.de
Prof. Dr. Thomas Hildebrandt
Leiter der Abteilung für Reproduktionsmanagement
Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW)
im Forschungsverbund Berlin e.V.
+49 30 516 8440
hildebrandt@izw-berlin.de
Steven Seet
Leiter Wissenschaftskommunikation
Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW)
im Forschungsverbund Berlin e.V.
+49 30 516 8125
seet@izw-berlin.de
- Max Delbrück Center
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Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.