Erich Wanker

Der Beziehungsforscher

Proteine sind in ihrer Vielfalt und Komplexität unerreicht, sagt Erich Wanker. Kleinste Veränderungen bringen ganze Beziehungsgeflechte durcheinander. Er will verstehen, wie das bei Krankheiten des Gehirns wie Chorea Huntington Nervenzellen absterben lässt – und was diesen Prozess stoppen kann.

Biologie mache ihn demütig. Zu erkennen, wie in den Zellen Proteine entstehen und wie sie aneinanderbinden, um Einheiten zu bilden, die den Menschen von der Essigfliege unterscheiden. Hundertausende Eiweiße können es in einer Zelle sein, die sich zu tausenden Proteinkomplexen mit jeweils eigenen Funktionen zusammensetzen.

„Proteine sind die faszinierendsten Moleküle, die das Leben hervorgebracht hat. Sie sind in ihrer Vielfalt und Komplexität unerreicht“, sagt Professor Erich Wanker, der am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) die Arbeitsgruppe „Proteomforschung und molekulare Mechanismen bei neurodegenerativen Erkrankungen“ leitet. „Schon Kleinigkeiten, die in diesem Netzwerk falsch laufen, können zu hunderten Krankheiten führen.“ Er erforscht, wodurch diese Kleinigkeiten im Gehirn aus der Bahn geraten, genauer: wie fehlgefaltete Proteine und Proteinkomplexe die Aufgaben der Nervenzellen beeinträchtigen und neurodegenerative Krankheiten auslösen.

Wenn wir Proteine und ihr Zusammenspiel verstehen, werden wir das Leben verstehen und Therapien für viele Krankheiten entwickeln können.
Erich Wanker
Erich Wanker Leiter der AG "Proteomforschung und molekulare Mechanismen bei neurodegenerativen Erkrankungen"

Wanker widmet sich insbesondere Chorea Huntington, einem bislang unheilbaren Leiden. Für die Betroffenen verläuft ihr Leben jahrzehntelang normal. Dann entgleitet ihnen langsam und unaufhaltsam die Kontrolle über den eigenen Körper, über ihre Muskeln und Gedanken. Denn in Teilen ihres Gehirns sterben Nervenzellen ab. Bis zu ihrem Tod.

„Wenn wir Proteine und ihr Zusammenspiel verstehen, werden wir das Leben verstehen und Therapien für viele Krankheiten entwickeln können“, sagt Wanker. Er mag klare Worte und große Ziele. Doch wenn er Sätze wie diesen sagt, klingen sie keinesfalls großspurig, vielmehr so, als seien sie mit einer Fußnote versehen, hinter der sich akribisch gesammelte Erkenntnisse zahlloser Laborstunden, Experimente und Studien aufreihen. „Die Zukunft wird sein, mit besseren biologischen Analyseverfahren, Automatisierung und Rechenpower zelluläre Prozesse auf molekularer Ebene umfassend zu verstehen.“

Kranke Fliegengehirne

Wanker öffnet die Tür zu einem Labor. Seine Mitarbeiterin Dr. Anne Ast bereitet gerade ein Experiment mit Drosophila melanogaster vor. Die Essigfliegen schwirren in einem Glaskolben umher und sinken zu Boden, als sie Ast mit Kohlendioxid betäubt. Sie legt die Schlafenden unter ein Lichtmikroskop; durch das Okular sind ihre leuchtend roten Augen klar zu erkennen. Die Forscher*innen haben den Fliegen ein mutiertes menschliches Huntingtin-Gen eingesetzt. Es löst Chorea Huntington aus, indem es fehlgefaltete HTT-Proteine herstellt. „An unseren Fliegenmodellen können wir messen, wie die veränderten Huntingtin-Proteine zu Aggregaten verklumpen und wie sich das auf die Nervenzellen auswirkt“, sagt Wanker. Außerdem können die Forscher*innen durchspielen, welche anderen Proteine oder Proteinkomplexe die Ablagerungen beeinflussen – und wie sich der Prozess womöglich ausbremsen lässt.

Die Gemeinsamkeit von Nervenkrankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Huntington sind beschädigte Nervenzellen durch abgelagerte, fehlgefaltete Proteine im Gehirn. Wieso ist die Faltung von Proteinen wichtig, wie geht sie vonstatten und wieso schädigen fehlgefaltete Proteine Zellen? Prof. Erich Wanker und Dr. Anne Ast gehen diesen Fragen nach. Am Beispiel der Erbkrankheit Chorea Huntington zeigen sie, wie fehlgefaltete Eiweißmoleküle zunehmend verklumpen und so Nervenzellen langsam absterben lassen. Und sie berichten von neuen Ansätzen, die Eiweißklumpen aufzulösen, um die Krankheit zu mildern.

Wankers Team fand bereits heraus, dass sich die Aggregate selbst vervielfältigen können, indem sie quasi ihre eigene Struktur an gesunde Moleküle übergeben, ein Prozess, der „Seeding“ genannt wird. Anne Ast und ihre Kolleg*innen haben Vorstufen der Aggregate nachgewiesen, lange bevor die ersten Nervenzellen absterben. „Bisher war die gängige These, dass sich Aggregate als Ergebnis der Krankheit bilden“, sagt Wanker. „Aber es handelt sich um frühe Veränderungen, die ein Treiber der Krankheit sind.“ Die Erkenntnisse könnten die Diagnostik verbessern, etwa die Vorhersage, wann die Erberkrankung ausbricht oder wie schwer ihr Verlauf sein wird. Und sie könnten ein Ansatzpunkt sein, um ihr Fortschreiten frühzeitig zu verhindern.

Eine Reise zwischen den Welten

Lässt man Wankers Forscherleben im Zeitraffer ablaufen, sieht man ihn in der ersten Szene als einen von Molekülen begeisterten Studenten an der Technischen Universität Graz, bald darauf als Absolvent der technischen Chemie, den die Prozesse des Lebens plötzlich brennender interessieren als technische Verfahren. Er taucht ein in die Chemie des Lebens, charakterisiert in der nächsten Einstellung ein Enzym aus einem Bakterium, will für seine Doktorarbeit herausfinden, ob es für die Gewinnung von Fruktose aus Feldfrüchten geeignet ist. In der folgenden Szene sieht man ihn im weißen Kittel als Postdoc an der University of California in Los Angeles, wie er Zellschnitte unter dem Elektronenmikroskop analysiert; er studiert nun Proteintransport und Proteinsekretion, lernt die Zellbiologie von Grund auf.

Schnitt. Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin-Dahlem, 1995. Noch einmal hat Wanker sich eine neue Welt erschlossen: die der Neurodegeneration. Zwei Jahre zuvor wurde die Mutation im Gen Huntingtin identifiziert, die Chorea Huntington auslöst. Jetzt will er als Gruppenleiter aufklären, wie das fehlerhafte Huntingtin-Gen die zelluläre Funktion stört. „Ich habe es als Herausforderung gesehen, meine ganze Biochemie und Zellbiologie auf diese Frage anzuwenden“, sagt Wanker.

Eine viel zu lange Kette

Die Begeisterung für die intensive Beschäftigung mit einem Thema kommt bei mir von innen heraus. Ich entwickle Ideen, die mich packen, und dann gehe ich rein und dieser eigenen Welt auf den Grund.
Erich Wanker
Erich Wanker Leiter der AG "Proteomforschung und molekulare Mechanismen bei neurodegenerativen Erkrankungen"

Es beginnt eine intensive Zeit. Wanker vertieft sich, verlässt das Labor manchmal tagelang kaum – und entdeckt 1997 die Polyglutaminaggregation. Die Zelle gerät beim Kopieren des Huntingtin-Gens ins Stottern: Drei DNS-Basen wiederholen sich deutlich häufiger als normalerweise an dieser Stelle. In die Aminosäuresequenz des Huntingtin-Proteins werden deshalb zu viele Glutamin-Bausteine eingefügt. Die Folge: lange Polyglutaminketten, die zu den berüchtigten Ablagerungen verklumpen und die Nervenzellen vergiften, zeigt Wanker. Ein eigenes Forschungsfeld entsteht, die Polyglutaminaggregationsforschung. Schaut man in die Datenbank PubMed, findet man 2.000 Studien dazu, an 65 war Wanker beteiligt. Doch noch immer ist unbekannt, wie genau die verlängerte Sequenz die Krankheit auslöst. Wanker will auch das noch herausfinden.

„Die Begeisterung für die intensive Beschäftigung mit einem Thema kommt bei mir von innen heraus. Ich entwickle Ideen, die mich packen, und dann gehe ich rein und dieser eigenen Welt auf den Grund“, sagt Wanker. So ist es auch, wenn er sich in seiner freien Zeit mit Literatur beschäftigt, die detailversessene Sprache des Arztsohnes Marcel Proust aufsaugt. Robert Musil, Joseph Roth, Thomas Mann. Und so war es als Kind in Kärnten, wo er sich in der Umgebung des Bauernhauses seiner Großeltern verlor, jeder kleine Stein, jedes Insekt, jede Blüte große Rätsel barg. Oder später an der Schule, als sich ihm die bis dahin unsichtbare Welt der Moleküle eröffnete.

Die Suche nach einem therapeutischen Molekül

Als Wanker 2001 ans MDC kommt, packt ihn die Welt der Proteine und ihrer Beziehungen endgültig. Dort vermutet er die Antworten auf seine größten Fragen. Er baut die erste MDC-Arbeitsgruppe auf, die sich mit systembiologischen Fragen beschäftigt und genetische Verfahren nutzt, um Proteininteraktionen zu messen. Die von ihm automatisierte Hefe-2-Hybrid-Methode ermöglicht es, spezifische Proteine in Hefezellen einzubringen und Wechselwirkungen zu erkennen. Ein Robotersystem führt damit Millionen Experimente durch. Auf der Grundlage der Daten veröffentlichte sein Team 2008 ein Interaktionsnetzwerk mit 3.200 Wechselwirkungen zwischen 1.700 menschlichen Proteinen. Ein Meilenstein, den er längst selbst überholt hat: 2020 zeichnete er ein Geflecht aus 30.000 Verbindungen zwischen 5.000 Proteinen nach, die mit Neurodegeneration in Verbindung stehen. „Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, welche davon biologisch relevant sind“, sagt Wanker augenzwinkernd.

Ein neues Verfahren geht einen Schritt weiter. Das Robotertestsystem LuThy – in Wankers Team auch liebevoll Lucy genannt – kann äußerst genau messen, wie stark die Bindung zwischen Proteinen in Säugetierzellen ist. LuThy kann sogar den Abstand zwischen Proteinen in einer Zelle bestimmen. Eine äußerst hilfreiche Information, denn kleinste Verschiebungen, etwa durch Mutationen, können große biologische Konsequenzen nach sich ziehen – und Ansatzpunkte für die Medikamentenentwicklung bieten.

Eigentlich, sagt Wanker, sehe er sich als „Hardcore-Grundlagenforscher“. Doch mit dem Wissen um molekulare Prozesse kommen wertvolle Hinweise für die Therapieentwicklung. Seine Hoffnung ist, das „Seeding“ bei Chorea Huntington, also die Umwandlung von gesunden in kranke Proteine, durch ein therapeutisches Molekül zu stoppen. Dafür wird er sich wieder vertiefen, Aggregate aus Gehirngewebeproben isolieren und mit selbst entwickelten Methoden testen, ob sich aussichtsreiche Wirkstoffe finden lassen – um dann seine Vision mit einer neuen, akribisch zusammengetragenen Fußnote zu versehen.

Text: Mirco Lomoth

 

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