Überraschungsmomente und glückliche Zufälle
Sind Sie froh, dass solche Veranstaltungen wieder möglich sind?
SooJin Anjou: O ja! Mein Mann und ich waren beide lange Zeit sehr vorsichtig, länger als die meisten anderen Menschen. Sobald ich wieder angefangen habe, Leute zu treffen, und ich meine nicht nur beruflich, sondern auch Nachbarn und Freunde, habe ich gemerkt, wieviel mehr dabei herauskommt.
Nikolaus Rajewsky: Mir ging es wie so vielen, mein berufliches Leben hat sehr gelitten. Denn an der Forschung hier sind viele verschiedene Fachrichtungen beteiligt, und man muss viel miteinander sprechen. Das über Zoom zu machen, ist nicht optimal. Mich reizt intensive Kommunikation, dann macht es Spaß. Wirklich kreative Diskussionen kommen bei einer Zoom-Konferenz selten auf.
Also ein bisschen wie in der Sixtinischen Kapelle, wo der Funke erst überspringt, wenn Adam und Gott einander mit der Fingerspitze berühren. Wie läuft so ein Abend ab?
Anjou: Es ist eine gemeinsame Forschungsreise, ein gemeinsames Erlebnis des Lernens und der Entdeckungen. Bei der ersten Veranstaltung haben wir über den halbwachen Zustand zwischen Schlaf und Aufstehen geredet, und wie er für kreative Arbeit genutzt werden kann. Wir wollen jedes Mal eine neue Komposition aufführen, sei es eine Uraufführung oder eine Berlin-Premiere. Die Sonate von Wolfgang Köhler am 13. März war eine Uraufführung, also sie war hier in Berlin wirklich zum ersten Mal zu hören.
Rajewsky: Die meisten Menschen denken, dass Wissenschaft bedeutet: Menschen sitzen zusammen und lösen Probleme. Das ist ein Teil der Forschung, aber der weitaus spannendere und schwierigere Teil ist, sich neue Fragestellungen auszudenken. Und die kann man nicht aus den bereits bekannten Erkenntnissen ableiten. Da fängt man nicht an einem Punkt an und durch kombinatorisches Ausloten der logischen Zusammenhänge kommt man dann auf das Ergebnis. Etwas wirklich Neues ergibt sich immer auch intuitiv.
Anjou: Ironischerweise ist es im Grunde ist es in der Musik andersherum. Dieses Missverständnis, was wir in Wahrheit tun, betrifft beide Seiten. Die meisten Menschen denken, dass es in der Musik um Inspiration geht und darum, von der Muse geküsst zu werden. Aber tatsächlich geht es oft darum, Probleme zu lösen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Anjou: Jede Komposition hat eine Form, auch wenn es eine freie Form ist. Man beginnt mit einigen kreativen Ideen, aber muss die Struktur des Ganzen im Blick behalten, ob es eine einfache A-B-A-Form ist oder ein frei fließender Aufbau von Anfang bis Ende, ohne dass ein Element sich wiederholt. Es geht um Proportionen: Ist das zu lang oder zu kurz, habe ich dieses Thema genügend ausgeführt oder es überstrapaziert? Und die Musiker haben ihre eigenen Aufgaben zu lösen. Zum Beispiel, wie sie den stärksten Ausdruck aus dem Stück, das sie spielen, herausholen können, oder ganz einfach, wie sie ein technisches Problem meistern. Wie können sie die schwierige Stelle so üben, dass es am Ende völlig leicht und unangestrengt klingt und dem Stil des Stücks entspricht? Welche weniger offensichtlichen Aspekte gilt es zu Gehör zu bringen? Und wie Nikolaus gesagt hat, kommt es auch in der Musik darauf an, zunächst einmal interessante Fragen zu stellen.
Kreativität funktioniert nach bestimmten Regeln?
Rajewsky: Das ist sogar ein eigenes Forschungsgebiet. In der Neurowissenschaft hat man sich immer gefragt: Wie kommt es, dass einige Menschen ein Problem intuitiv lösen, während andere alle infrage kommenden Lösungen durchprobieren, bis sie die richtige gefunden haben? Man kann Leuten mit unterschiedlichen Herangehensweisen eine Aufgabe stellen und ihre Gehirnaktivitäten messen. Es gibt eine Vielzahl detaillierter Studien zu der Frage, wie unsere Nervenzellen verknüpft sind, damit der eine oder der andere Lösungsansatz optimal funktionieren kann. Wenn man das Ganze jetzt evolutionsbiologisch betrachtet und sich vorstellt, man steht im Regenwald, und von der einen Seite kommt ein Löwe auf einen zu und von der anderen ein großer Affe, und direkt vor einem hebt eine Schlange ihren Kopf – dann hat man wahrscheinlich keine Zeit, alle möglichen Szenarien nacheinander durchzugehen. Man muss sofort eine Entscheidung treffen und eine Lösung finden. Man muss schnell sein und sich intuitiv entscheiden. Wobei Intuition ja eine Art von Verknüpfung aller Erfahrungen ist, die man je gemacht hat. Es gibt viele gute Gedanken und Arbeiten zu diesem Thema, das im Stundenplan von Schulen und Universitäten leider nicht vorkommt.
Anjou: Wenn man Musik improvisiert, gibt es in jedem Augenblick unzählige Wege, die man einschlagen kann. Wie in dem Beispiel vom Affen und der Schlange muss man sofort entscheiden, in welche Richtung es gehen soll. Dazu braucht es Erfahrung und Instinkt, aber Instinkt kann auf einer soliden Grundlage zuvor gemachter Erfahrungen aufgebaut sein.
Ständig in Sekundenschnelle Entscheidungen zu treffen und dabei das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren, sodass es sich nicht wie eine Aneinanderreihung von Einzelteilen anhört, sondern das Musikstück insgesamt mehr ausdrückt als die Kombination einzelner Abschnitte, das ist das ständige Bestreben von Musiker*innen und Künstler*innen.
Nikolaus Rajewsky, Sie haben Klavier studiert. In welcher Weise hilft Ihnen Ihr Klavierspiel bei Ihrer Arbeit als Wissenschaftler?
Rajewsky: Ich weiß es nicht. Was ich aber sagen kann, ist, dass sowohl das eine als auch das andere mich inspiriert und die Gegenseite befruchtet. Das geht in beide Richtungen.
Wir haben über das Verhältnis von Erfahrung und Intuition gesprochen, das bringt mich zum Thema Maschinelles Lernen. Sie, Nikolaus Rajewsky, analysieren extrem große Datenmengen. Und Sie, SooJin Anjou, haben elektronisch erzeugte und akustische Elemente kombiniert in Ihrer Ersteinspielung von Morton Subotnicks Klavierwerken. Wäre „Mit Maschinen reden“ als Titel ebenso möglich für Ihre Konzert- und Diskussionsreihe „Spark“?
Rajewsky: Wir haben bereits darüber gesprochen, dass einer der „Spark“-Abende sich mit den Möglichkeiten maschinellen Lernens und den Auswirkungen auf uns auseinandersetzen soll.
Anjou: Der Fortschritte der Künstlichen Intelligenz (KI) in den letzten Jahren – und sogar in den letzten Monaten mit ChatGPT und der Weiterentwicklung von Bing – hat meinen Glauben an die Musik noch gestärkt. Viele Musiker hadern mit der Frage: OK, ich mache Musik und ich liebe das, was ich tue. Das ist ein Privileg, aber ist es wirklich wichtig für die Menschheit? Es gibt Ärzte und Wissenschaftlerinnen und Menschenrechtsanwälte, deren Arbeit Leben rettet. Hier und jetzt. Ist meine Arbeit genauso wertvoll? Aber im Grunde habe ich jetzt, in Zeiten hoch entwickelter Künstlicher Intelligenz, weniger Zweifel. Denn anscheinend sind wir Menschen als Musiker*innen unersetzlich. Unsere menschliche Verletzlichkeit macht Musik erst wertvoll. Die Unvorhersehbarkeit, die Fehleranfälligkeit macht eine menschliche Darbietung interessant und beeindruckend.
Rajewsky: Vielleicht wird Künstliche Intelligenz in fünfzig Jahren Werke hervorbringen können, die wir bewundern, vielleicht ist das der nächste Schritt in der Entwicklung. Der Abstand wird kleiner, denn Sie können ein Computerprogramm mit einer Reihe von Reden füttern, die ich gehalten habe, und es kombiniert daraus eine neue Rede über ein Thema, über das ich nie gesprochen habe. Annähernd so, wie ich darüber reden würde. Daher wäre ich nicht überrascht, wenn ich eine Vladimir-Horowitz-Interpretation von einem Klavierstück hören würde, das er nie gespielt und das eine KI aus allen seinen vorhandenen Aufnahmen zusammengesetzt hat. Ok, es würde sich niemals so interessant anhören, wie Horowitz es gespielt hätte, aber dennoch… Das ist eine sehr interessante Diskussion und auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bedeutsam, inwieweit Maschinelles Lernen uns ersetzen wird. Junge Forscher*innen fragen sich natürlich, ab welchem Punkt Maschinen einen Teil ihrer Arbeit übernehmen werden. Die Angst ist da, aber der Spaß-Faktor ist ebenso groß. Es ist eine erstaunliche Entwicklung.
Erzeugt das nicht eine Konkurrenz zu den Maschinen? Demütigen sie uns, weil wir niemals so perfekt sein können wie sie?
Anjou: Zur Zeit Beethovens gab es einen Komponisten namens Johann Nepomuk Hummel, der damals sehr erfolgreich war, sehr bekannt. Ich habe einige seiner Stücke an einem Klavierabend neben Beethoven-Stücken gespielt. Es ist sehr, sehr gute Musik, aber zum Schluss hat es mich so gelangweilt, das zu spielen. Weil es gut gemacht ist, aber so vorhersehbar! (Entschuldigung, Hummel!) So stelle ich mir Musik vor, die sehr gute Künstlicher Intelligenz in naher Zukunft komponieren kann. Der Unterschied liegt im Moment der Überraschung. Nicht der Überraschung um des Überraschens willen, sondern jenes unvorhergesehene Element, das eine ganz neue Dimension in der Musik eröffnet und sie in eine andere, womöglich transzendente Sphäre trägt.
Was möchten Sie mit Ihrer Veranstaltungsreihe „Spark“ erreichen?
Anjou: Wir wollen Spontanität und glückliche Zufälle ermöglichen, ohne im Einzelnen vorzugeben, was genau dabei herauskommen soll. Es wird passieren, indem wir den Raum dafür schaffen. Ich habe eine Freundin, eine Astronomin, mal gefragt: „Was machst du denn, um kreativ zu sein?“ Und sie sagte: „Ich besuche Konferenzen und gehe abends mit Kolleginnen und Kollegen etwas trinken.“
Gleichzeitig möchten wir, dass etwas Greifbares dabei herauskommt, wie bei einer Klavierschülerin von mir, die Mathematik studiert. Sie war bei dem Abend über die Kreativität im halbwachen Zustand dabei und erzählte mir ein paar Wochen später: „Wissen Sie was? Es hat funktioniert! Ich habe vor dem Schlafengehen an diesem mathematischen Beweis gearbeitet, habe mich darauf konzentriert, bevor ich eingeschlafen bin, und am nächsten Morgen hatte ich die Lösung!“ Es wäre cool, wenn es vielen so geht! Ganz allgemein: Auch wenn nicht alle Vorteile aus dieser Zusammenarbeit vorhersehbar sind, sind wir gespannt, welche Überraschungen sich ergeben.
Die Fragen stellte Elske Brault.
Weiterführende Informationen
- Porträt über Nikolaus Rajewsky
- Die nächste Folge in der Reihe: 27. Juni 2023
- Musik trifft Wissenschaft