Walter Birchmeier

Ein Altmeister der Krebsforschung

Mehrere Dekaden lang hat Walter Birchmeier erforscht, wie sich Zellen in Geweben organisieren und wie diese Prozesse bei Krebserkrankungen durcheinandergeraten. Kurz vor Ende des dritten Jahrzehnts am Max Delbrück Center geht der Zellbiologe nun im Alter von 80 Jahren in den Ruhestand.

 

Wenn jemand von Anfang an dabei war und eine Institution entscheidend beeinflusst, ihr sozusagen seinen Stempel aufgedrückt hat, dann spricht man von einem Urgestein. Ein solches Urgestein ist Walter Birchmeier, der Leiter der Arbeitsgruppe „Signalvermittlung in Krebsentstehung und Entwicklung“ am Max Delbrück Center. „Als wissenschaftlicher Vorstand hat er das Max Delbrück Center ganz wesentlich geprägt. Und in der Krebsforschung hat er mit seinen molekular-mechanistischen Studien Maßstäbe gesetzt“, sagt Professor Claus Scheidereit, der von 2009 bis 2020 die Krebsforschung am Max Delbrück Center koordiniert hat. Im Alter von 80 Jahren verabschiedet sich Walter Birchmeier nun in den Ruhestand.

Walter Birchmeier kam 1993, kurz nach der Gründung des Instituts, als Gruppenleiter ans Max Delbrück Center. In den ersten Jahren des Instituts, das als Nachfolgerin dreier Forschungseinrichtungen der Akademie der Wissenschaften der DDR gegründet worden war, sei der Selbstfindungsprozess zwischen Ost und West nicht immer einfach gewesen, erinnert sich der Zellbiologe. Gründungsdirektor Detlev Ganten habe ihn zu allen Sitzungen dazu geholt, um zwischen ost- und westdeutschen Kolleg*innen zu vermitteln: „Dabei hat mir wahrscheinlich geholfen, dass ich der einzige Schweizer am Institut und damit weniger verdächtig war, irgendjemanden überrennen zu wollen“, sagt er und schmunzelt. Seit 1996 hat er eine Professur an der Charité – Universitätsmedizin Berlin inne. 1998 wurde er stellvertretender Wissenschaftlicher Vorstand des Max Delbrück Centers, von 2004 bis 2008 war er Wissenschaftlicher Vorstand.

Seine konsequente Fokussierung auf wissenschaftliche Exzellenz hat das Zentrum auf eine neue Stufe gehoben.
Prof. Dr. Thomas Sommer
Thomas Sommer Wissenschaftliche Vorstand (komm.)

Als Wissenschaftlicher Vorstand habe er stets nach den besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Ausschau gehalten und versucht, sie nach Berlin zu locken, erzählt Birchmeier. So hat er beispielsweise Professor Nikolaus Rajewsky aus New York, Professor Klaus Rajewsky aus Boston und Professor Thomas Jentsch aus Hamburg berufen. „Ich bin damals oft um vier Uhr morgens aufgestanden, um Papiere und Verträge durchzuarbeiten. Dann bin ich ans Max Delbrück Center gefahren.“ Um noch etwas Zeit im Labor verbringen zu können, hat er die Mappe dann im Auto gelassen. Seine Sekretärin Elisabeth Schmeitzner war im Besitz der Autoschlüssel und holte sie dort ab. „Sie hat mich und mein Team immer sehr unterstützt“, sagt Birchmeier. Das Center hat von seiner Leitung immens profitiert. „Seine konsequente Fokussierung auf wissenschaftliche Exzellenz hat das Zentrum auf eine neue Stufe gehoben“, sagt Professor Thomas Sommer, der derzeitige Wissenschaftliche Vorstand (komm.). „Er hat sehr viel für das Max Delbrück Center getan. Dafür und für die vertrauensvolle und sehr angenehme Zusammenarbeit in all den Jahren danke ich ihm herzlich.“

Aufbruch nach Kalifornien

Carmen Birchmeier-Kohler und Walter Birchmeier

Walter Birchmeier wurde am 8. Juli 1943 in Würenlingen in der Schweiz geboren. Nach einer Ausbildung zum Grundschullehrer und zweieinhalb Jahren an einer Schule studierte er Biologie an der Universität Zürich. Nach seiner Promotion ging er als Postdoc 1973 zunächst ans Biozentrum der Universität Basel. In dieser Zeit lernte er auch seine Frau kennen, Professorin Carmen Birchmeier-Kohler. Sie leitet ebenfalls eine Forschungsgruppe am Max Delbrück Center, ihr Thema ist „Entwicklungsbiologie / Signaltransduktion in Nerven und Muskelzellen.“ Ein gemeinsamer Freund hatte in Waldshut, in der Kleistadt in Südwest-Deutschland, wo Carmen aufgewachsen ist, anlässlich des Fußball-WM-Finales im Juli 1974 zu einer Gartenparty eingeladen. Während die anderen Gäste am Bildschirm im Wohnzimmer verfolgten, wie die Deutschen die Niederländer 1:2 besiegten, saß Walter Birchmeier draußen mit seiner zukünftigen Frau und aß Grillwürste. Die beiden gingen 1975 zusammen an die University of California in San Diego, er als Postdoktorand, sie als Studentin der Chemie und Biochemie. Sie heirateten 1977.

In San Diego forschte Walter Birchmeier mit Professor S. Jonathan Singer, dem Erfinder des Flüssig-Mosaik-Modells, an Membranproteinen, ein Gebiet, das damals noch viele blinde Flecken aufwies. 1978 kehrte er nach Europa zurück, zunächst an die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich. 1982 wechselte als Arbeitsgruppenleiter an das Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-Planck-Gesellschaft in Tübingen, wo er mit der späteren Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard zusammenarbeitete. Sie entdeckte bei der Taufliege Drosophila melanogaster das beta-Catenin, dort Armadillo genannt. Das ist ein Strukturprotein, das die Transkription beeinflusst und dafür sorgt, dass sich die Körpersegmente des Drosophila-Embryos richtig ausbilden. Wird Armadillo ausgeschaltet, schlüpfen Taufliegen ohne Flügel.

Auf dem Gebiet der Molekularen Zellbiologie wurde Walter Birchmeier 1988 Ordentlicher Professor am Universitätsklinikum Essen und beschäftigte sich mit den zellulären Mechanismen der Zellmobilität. 1993 wechselte er schließlich ans Max Delbrück Center. Hier knüpfte er unter anderem an die Drosophila-Forschung von Christiane Nüsslein-Volhard an und untersuchte den Einfluss von beta-Catenin – jenes Proteins, das bei der Taufliege Armadillo heißt – auf Zellentwicklung und Tumorentstehung. In seiner meistzitierten Publikation, 1996 in „Nature“ veröffentlicht, beschreibt seine Gruppe den Wnt/beta-Catenin-Signalweg. Der Wachstumsfaktor Wnt aktiviert beta-Catenin, das in einen Proteinkomplex außerhalb des Zellkerns eingebettet ist. Es löst sich daraufhin aus diesem Komplex, wandert in den Zellkern, interagiert dort mit Transkriptionsfaktoren der Lef-1/Tcf-Familie und aktiviert Gene, die den Zellzyklus kontrollieren. Dieser Signalweg spielt eine wichtige Rolle während der embryonalen Entwicklung, kontrolliert beispielsweise die Ausbildung der Körperachse und der Organanlagen.

Wie sich Tumore ausbreiten

In ausgereiften Zellen ist der Wnt/beta-Catenin meist stillgelegt: Die Zellen blockieren das Wnt-Signal, bevor es beim beta-Catenin eintrifft. Oder sie bauen beta-Catenin ab, bevor es den Zellkern erreicht. In Tumorzellen jedoch kann dieser Signalweg aufgrund von Mutationen wieder eingeschaltet sein. beta-Catenin ist dann übermäßig aktiv. Es kann nicht abgebaut werden und sammelt sich im Zellkern oder anderen Zellregionen an. Birchmeiers Gruppe zeigte, dass es mit E-Cadherin reagieren kann, einem Molekül, das dafür sorgt, dass sich Zellen miteinander verbinden. Dabei entsteht ein Cadherin, das es den Tumorzellen ermöglicht, sich aus ihrem Verbund zu lösen und auf Wanderschaft zu gehen. Die Wissenschaftler*innen lieferten damit eine Erklärung dafür, wie sich Krebs im Körper ausbreiten und Metastasen bilden kann.

Expandierende Krebsstammzellen (grün) in einem Darmtumor mit onkogen aktiviertem Wnt/beta-Catenin Signalweg (rot).

Noch im selben Jahr beschrieb Birchmeiers Gruppe in „Nature“ einen weiteren Signalweg. Die Forschenden zeigten darin, dass ein Protein namens Scatter Factor einen Rezeptor namens Met aktiviert, der in der Plasmamembran sitzt. Met bindet daraufhin an ein Protein, das sich an Stellen sammelt, die für den Zusammenhalt von Zellen verantwortlich sind. Der Kontakt mit Met bewirkt, dass sich die Zellen voneinander trennen und mobil werden. Sie bilden röhrenförmige Strukturen aus – ein Vorgang, der so auch im Epithelgewebe von Embryonen abläuft. Dass Störungen an diesen Signalwegen einerseits die embryonale Entwicklung negativ beeinflussen und andererseits die Tumorentstehung befördern, wies Birchmeiers Gruppe einige Jahre später an gentechnisch veränderten Mäusen nach. Ist beispielsweise beta-Catenin in der Haut und in den Haarfollikeln von Mausembryonen ausgeschaltet, entwickeln sich die Zellen nicht richtig. Ausgewachsene Mäuse, in denen diese Signalwege fehlreguliert waren, erkrankten an Tumoren wie zum Beispiel Brustkrebs.

Hochrangige Publikationen sind harte Arbeit

Eigentlich hatte Walter Birchmeier 1996 noch mehr Themen mit „Nature“-Potenzial in petto, erzählt der Krebsforscher. „Aber um hochrangige Paper muss man kämpfen“, sagt er, „sie müssen gut geschrieben sein, sie müssen den Verlag und das Review Board überzeugen. Das ist harte Arbeit, die man nicht nebenbei erledigen kann.“ Er war zu dieser Zeit jedoch stark anders eingespannt. Er und seine Frau hatten ihren Schwiegervater, der nicht mehr allein leben konnte, bei sich in Berlin aufgenommen. In die Pflege flossen viel Zeit und Energie.

Walter Birchmeier hat mehr als ein halbes Jahrhundert in der Forschung verbracht. Gerade hat er mit seinem Mitarbeiter Dr. Kamil Lisek und einer Pariser Forschungsgruppe drei Gene identifiziert, die beim Triple-Negativen Brustkrebs (Triple Negative Breast Cancer, TNBC) aktiviert sind, dem besonders aggressiven Brustkrebs des Menschen. Auch hier spielt der Wnt-Signalweg eine Rolle, da er die Entwicklung des Brustgewebes mitsteuert. Die Wissenschaftler*innen haben ein Mausmodell gezüchtet, bei dem diese drei Gene aktiviert sind. Die Tiere entwickeln damit nicht an allen Zitzen Tumore, sondern lediglich an den oberen – also in dem Bereich, in dem sich auch beim Menschen Brustkrebs entwickelt. Das findet Walter Birchmeier hochspannend. Die drei Gene wird er – aus der Ferne – im Auge behalten. Kamil Lisek wird sie künftig am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Centers (MDC-BIMSB) zusammen mit der Forschungsgruppe von Nikolaus Rajewsky weiter erforschen. Mithilfe der Einzelzellanalyse werden sie versuchen, die gefährlichen Zellen bei menschlichem Brustkrebs nachzuweisen, um herauszufinden, in welchen Tumorregionen sie aktiviert sind.

„Ich bin auf die Ergebnisse dieser Arbeit schon sehr gespannt“, sagt Walter Birchmeier. Das MDC-BIMSB wird er von Zeit zu Zeit besuchen, um sich über die Fortschritte zu informieren.

Text: Jana Ehrhardt-Joswig

 

Weitere Informationen