Wie embryonale Zellen das Rückenmark, Muskeln und Knochen formen

Eine kleine Gruppe Zellen, die nur für kurze Zeit existiert, formt bei Säugetier-Embryonen wichtige Gewebe. Forscherinnen und Forscher haben nun die molekulare Signatur dieser Zellen entschlüsselt.

Auf das richtige Maß und den richtigen Zeitpunkt kommt es oft im Leben an – zum Beispiel bei der Produktion jener Zellen, die nötig sind, um im Embryo funktionierende Muskel-, Knochen- und Rückenmarksgewebe zu bilden. Welche Mechanismen dahinterstecken, haben nun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Francis Crick Institutes in London, des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin und der Universität von Edinburgh aufgedeckt. Ihre in der Fachzeitschrift Developmental Cell veröffentlichte Studie wirft ein neues Licht auf jene Zellen, die Rückenmark, Muskeln und Knochengewebe formen.

Die Entdeckung ebnet den Weg dafür, solche Gewebe aus Stammzellen im Labor zu züchten, und könnte neue Perspektiven für das Studium von degenerativen Prozessen wie der Motoneuron-Krankheit und muskulärer Dystrophie eröffnen.

Rückenmark, Muskeln und Skelett werden bei Embryonen von einer Gruppe von Zellen gebildet, die sich neuro-mesodermale Progenitor-Zellen (NMPs) nennen. Diese Zellen sind rar und existieren nur für kurze Zeit in den Embryonen von Säugetieren. Sie genauer zu untersuchen, war deswegen bisher eine Herausforderung. Dank neuester molekularer Methoden gelang es dem Forschungsteam nun erstmals, die Genaktivität der NMPs zu entschlüsseln. Die Forschenden nutzten eine Methode namens „single cell transcriptional profiling“. Dabei werden individuelle Zellen analysiert, um ein detailliertes Bild der Genaktivität in jeder Zelle zu gewinnen.

Potenzial für regenerative Medizin

Die Technik erlaubte es dem Team, die molekulare Signatur der NMPs zu entschlüsseln und zu zeigen, dass aus Stammzellen in der Petrischale erzeugte NMPs jenen in Embryonen sehr ähneln. Das Team kann nun die im Labor erzeugten NMPs nutzen, um mehr über diese Zellen zu erfahren und zu analysieren, wie aus ihnen Rückenmark, Muskeln und Knochengewebe werden. In der Petrischale kann man die Zellen zudem manipulieren und die Funktion einzelner Gene testen. Die Forscherinnen und Forscher konnten so den Regulationsmechanismus rekonstruieren und ein mathematisches Modell hierfür entwerfen. Es zeigt, wie NMPs genau die erforderliche Menge Zellen für das Rückenmark, Muskeln und Knochen bilden.

„Damit die embryonale Entwicklung reibungslos ablaufen kann, müssen die NMPs die richtigen Zelltypen zur richtigen Zeit und in der richtigen Anzahl produzieren“, sagt Dr. James Briscoe, der die Studie am Francis Crick Institute leitete. Das Wissen darum, wie die Zellen diese Entscheidungen treffen, sei zentral für das Verständnis embryonaler Entwicklung. „Techniken, die das Profil einzelner Zellen erstellen, geben uns noch nie dagewesene Einsichten in dieses Problem und bieten neue und faszinierende Perspektiven, wie Embryos die verschiedenen Gewebe entwickeln, die jeder erwachsene Körper hat.“

Die Erstautorin der Studie, Dr. Mina Gouti vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin, fügt hinzu: „Ein besseres Verständnis dieser Mechanismen hilft nicht nur bei der Beantwortung wichtiger Fragen der Entwicklungsbiologie, sondern hat auch Potenzial für die regenerative Medizin. Es bringt uns dem Ziel, Gewebe von Patienten mit Erkrankungen der Muskeln oder der Motorneuronen nutzen zu können, um die Ursachen und den Verlauf dieser Krankheiten aufzuklären, einen Schritt näher. Dass wir Zellen im Labor züchten können, die denen jenen im Körper zuverlässig ähneln, ist dafür zentral.“

Die Studie „A gene regulatory network balances neural and mesoderm specification during vertebrate trunk development“ erscheint in der Fachzeitschrift Developmental Cell.


Beitragsbild: Neuronen (rot) und Muskelzellen (grün), die aus NMPs im Labor gezüchtet worden sind / Gouti Lab, MDC