Wie Herz und Bauch zusammenhängen
Als Kind war Sofia Forslund am liebsten mit ihrem Großvater zusammen. Auf Väddö, einer kleinen Insel an der schwedischen Ostküste, gingen sie segeln und angeln, bauten Baumhäuser, erfanden verrückte Märchen, lasen und sangen. Doch an ihrem zwölften Geburtstag passierte etwas, das sie bis heute nicht losgelassen hat. Der Großvater starb unerwartet an einem Herzinfarkt. Er war erst 62 Jahre alt. „Ich wollte diese Endgültigkeit nicht akzeptieren“, sagt Dr. Sofia Forslund, „so beschloss ich als Kind, den Tod zu besiegen.“ Sie las zunächst viel über Philosophie, um nach Beweisen für eine unsterbliche Seele zu suchen. Doch erst ein Buch des schwedischen Astronomen Peter Nilson über Mathematik machte sie hoffnungsvoller. „Es veränderte meine Sicht auf die Welt“, sagt Sofia Forslund. „Auf einmal konnte ich sehen, dass in allem um uns herum Mathematik steckt.“ Von da an wollte sie computergestützte Werkzeuge anwenden, um die Welt zu verstehen. Mit 14 lernte sie programmieren.
Heute akzeptiert Sofia Forslund, dass sie den Tod vielleicht nicht besiegen kann. Stattdessen will sie dazu beitragen, unser Leben so lang und gesund wie möglich zu machen. Die Bioinformatikerin, 38 Jahre alt, schulterlange Haare, schwarze Brille, freundliche Augen, sitzt auf dem Balkon des Experimental and Clinical Research Center (ECRC) in Berlin-Buch, einer gemeinsamen Einrichtung von Charité und MDC, wo sie seit Mai 2018 arbeitet. „Der Gedanke an meinen Großvater motiviert mich immer noch“, sagt sie. „Wie er damals sterben auch heute die meisten Menschen an einer Herz-Kreislauf-Krankheit.“
Big Data für die Medizin
Um das zu ändern, erforscht Sofia Forslund nicht direkt das Herz, sondern den Darm. Als Leiterin der Arbeitsgruppe „Wirt-Mikrobiom-Faktoren bei Herzkreislauf-Krankheiten" analysiert sie große Mengen biologischer Daten, etwa aus DNA-Sequenzierungen. Daraus ermittelt sie mithilfe quantitativer Modelle, welche Rolle die Bakterien in unserem Darm bei der Entstehung von Krankheiten spielen.
Die Wissenschaft beginnt erst, die Bedeutung des Mikrobioms, der Gesamtheit aller Bakterien im Darm, für unsere Gesundheit zu entschlüsseln. Die Mikroorganismen sind an Prozessen beteiligt, die mit dem ganzen Körper in Verbindung stehen. Sie helfen, Nahrung zu verdauen, sie machen Krankheitserreger unschädlich, produzieren Botenstoffe, können Immunzellen aktivieren. Einige fördern anscheinend die Gesundheit, andere eher nicht. Dabei ist der Bakteriencocktail im Darm von Mensch zu Mensch unterschiedlich gemixt – so individuell wie ein Fingerabdruck.
Wie sensibel die Darmflora auf Veränderungen reagiert, konnte Sofia Forslund in einer Studie zeigen, die 2018 in Nature Microbiology erschienen ist. Nachdem zwölf Probanden mit einem Breitband-Antibiotikum behandelt worden waren, waren die Bakterien in ihrem Darm fast vollständig verschwunden. Erst nach einem halben Jahr normalisierte sich die Bakteriengemeinschaft wieder. Ähnlich wie Pflanzen nach einem Waldbrand kehrten sie nach und nach zurück, zunächst vor allem solche Arten, die krankmachen können. Einige erholten sich gar nicht.
„In Berlin gibt es die Expertise, die ich für meine Arbeit brauche“
Sofia Forslund studierte in Uppsala und an der Universität Stockholm Bioinformatik und Biochemie. 2011 wechselte sie an das European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg, wo sie in der Arbeitsgruppe des Mikrobiomforschers Peer Bork arbeitete. Dort hat sie sich unter anderem mit den Auswirkungen von Salz auf die Darmflora beschäftigt. „Manche Menschen bekommen von übermäßigem Salzkonsum hohen Blutdruck“, sagt die Wissenschaftlerin. Ein Risikofaktor für Herzinfarkt, für den sich auch MDC-Forscher Professor Dominik Müller interessiert.
So kooperierte sie bereits in Heidelberg mit Müller, war an der DNA-Sequenzierung und mathematischen Analyse von Stuhlproben beteiligt. Die Teams konnten zeigen, dass unter einer salzreichen Kost die Zahl der Milchsäurebakterien im Darm abnimmt. Gleichzeitig steigt der Blutdruck und die Aktivität entzündungsfördernder Immunzellen an. Wurden gezielt Milchsäurebakterien zugeführt, milderten sich diese Effekte wieder ab. „Mich interessiert, ob wir eine ungesunde Darmflora in eine gesunde umwandeln und diesen Zustand dauerhaft stabil halten können“, sagt Sofia Forslund. Ob Probiotika mit nützlichen Darmbakterien dabei helfen, muss noch genauer untersucht werden.
Gerade arbeitet Sofia Forslund gemeinsam mit Dominik Müller an einer Studie, die die Auswirkungen des Fastens auf den Darm beobachtet. „Wir wollen wissen, ob Fasten den Bluthochdruck senkt“, erklärt sie. Zudem will sie eine andere Technik erforschen: die Stuhltransplantation. Dabei pflanzt man einem kranken Menschen den Stuhl eines gesunden Menschen ein, um wiederkehrende Infektionen einzudämmen. Demnächst wird Sofia Forslund gemeinsam mit anderen Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern außerdem untersuchen, wie sich verschiedene Ernährungsweisen auf die Darmflora auswirken. „In Berlin gibt es genau die Expertise, die ich für meine Arbeit brauche“, sagt Sofia Forslund.
Zuerst änderte sie kleine Dinge an ihrem Äußeren
Auch aus einem anderen Grund ist die Wissenschaftlerin glücklich, in Berlin zu sein. Hier geht sie offen mit ihrer Geschichte als Transgender um. Als sie sich 2016 für die Stelle am MDC bewarb, hatte sie noch einen männlichen Vornamen. Doch bereits mit Anfang 20 war ihr klargeworden, dass sie sich nicht als Mann fühlen konnte. Eine Seite, die sie lange versteckte – vor allem im Berufsleben. „Ich hatte immer Angst, diskriminiert zu werden“, sagt Sofia Forslund. Sie litt so sehr unter dem Konflikt, dass sie Angststörungen bekam. In Heidelberg begegnete sie eines Tages der US-amerikanischen Biologin Karissa Sanbonmatsu, die auch transgender ist und dies öffentlich machte. „Dieses Treffen hat mein Leben verändert“, sagt Sofia Forslund. „Ich hatte bis dahin keine Vorbilder. Nun sah ich, was ich in ein paar Jahren sein könnte.“
Ich denke nicht, dass der Mensch seinen Körper so akzeptieren muss, wie er ist.
Sie fasste Mut. Schritt für Schritt änderte sie kleine Dinge an ihrem Äußeren. Nagellack, Wimperntusche, Kleidung. „Als dann das Angebot aus Berlin kam, wollte ich mich nicht länger verstecken“, sagt sie. Gleichzeitig machte sie sich Sorgen. Wie würden die neuen Kollegen reagieren, bei denen sie sich als Mann beworben hatte? „Es war gar kein Problem“, sagt sie. „Bisher habe ich keine negativen Reaktionen erlebt.“ Ihren Vertrag unterschrieb sie mit einem neuen Vornamen: Sofia. Heute will sie sichtbar sein, um anderen Menschen Mut zu machen. „Ich denke nicht, dass der Mensch seinen Körper so akzeptieren muss, wie er ist“, sagt sie. „Wir dürfen daraus machen, was für uns hilfreich ist.“
Eine App für Prävention
Als Wissenschaftlerin will Sofia Forslund dazu beitragen, dass bestimmte Krankheiten erst gar nicht entstehen. Zukünftig könnten Implantate regelmäßig die Vorgänge in unserem Organismus messen, so ihre Vision. Während wir leben, essen und schlafen, würden sie regelmäßig Werte an eine App senden, die im Alltag Empfehlungen gibt, was unser Körper gerade für ein gesundes Gleichgewicht braucht. Sollten wir bestimmte Nährstoffe essen oder meiden? Die Dosis eines Medikaments erhöhen? Stress reduzieren?
Die App enthielte das gesamte Wissen über unser Erbgut, die Zusammensetzung der Bakterien in unserem Darm, Lebensgewohnheiten und Ernährungsvorlieben. Sie könnte errechnen, für welche Krankheiten wir anfällig sind und was wir tun müssen, damit sie nicht ausbrechen. „In der Zukunft sollten wir nicht erst zum Arzt gehen, wenn wir uns schlecht fühlen“, sagt Sofia Forslund. Gesundheitsvorsorge solle ein fortlaufender Prozess sein, der in den Alltag integriert ist. „Ich sehe darin eine große Chance, gesund zu bleiben und den Alterungsprozess zu verlangsamen.“ Vielleicht trägt ihre Arbeit eines Tages dazu bei, dass mehr Großväter bis ins hohe Alter Zeit mit ihren Enkeln verbringen können.
Text: Alice Ahlers
Weiterführende Informationen
Antibiotika und Mikrobiom: Regeneration im Verdauungstrakt
Darmbakterien reagieren empfindlich auf Salz