DNA-Klau stärkt die Immunvielfalt
Vor einigen Jahren machten Professorin Kathrin de la Rosa und ihre Kolleg*innen im Labor des Schweizer Immunologen Antonio Lanzavecchia eine ungewöhnliche Entdeckung. Das Team stieß im Blut von Malaria-Patient*innen auf Antikörper, für deren Herstellung der Bauplan eines Gens verwendet worden war, das eigentlich eine völlig andere Aufgabe besaß. „Gewöhnlich kodiert dieses Gen für einen Rezeptor, der das Immunsystem bremst – was der Malaria-Erreger wahrscheinlich nutzt, um sich leichter zu vermehren“, erklärt die Leiterin der Arbeitsgruppe „Immunmechanismen und humane Antikörper“ am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und dem Berlin Institute of Health in der Charité (BIH).
Das Immunsystem der an Malaria erkrankten Menschen hatte aber ganz offensichtlich zurückgeschlagen: „Die Antikörper, die wir bei ihnen fanden, hatten einen Teil dieses Rezeptors namens LAIR1 integriert und konnten dadurch die Parasiten effektiver erkennen“, sagt die Forscherin, die eine Johanna Quandt-Professur für Immunmechanismen in der Translation am BIH innehat, die von der Stiftung Charité gefördert wird.
Die Strategie ist weit verbreitet
Wir haben bei mehr als 80 Prozent der untersuchten Personen aus Afrika und Europa Antikörper ausmachen können, bei deren Herstellung auf fremde Gene oder andere weit entfernt liegende DNA-Fragmente zurückgegriffen wurde.
Der Fund warf bei Kathrin de la Rosa damals viele Fragen auf: War vielleicht ausschließlich das Immunsystem von Malaria-Patient*innen zu diesem Trick fähig? Oder allein das von Menschen afrikanischer Abstammung? Konnte lediglich der LAIR1-Rezeptor in die Antikörper integriert werden? Oder war man womöglich auf einen noch völlig unbekannten Mechanismus gestoßen, den die menschliche Körperabwehr generell nutzt, um in ihren B-Zellen möglichst passgenaue Antikörper herzustellen?
In einer Studie, die jetzt im Fachblatt „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) erschienen ist, geben de la Rosa und ihr Team erste Antworten auf diese Fragen.
„Wir haben bei mehr als 80 Prozent der untersuchten Personen aus Afrika und Europa Antikörper ausmachen können, bei deren Herstellung auf fremde Gene oder andere weit entfernt liegende DNA-Fragmente zurückgegriffen wurde“, berichtet der Erstautor der Studie, Mikhail Lebedin aus de la Rosas Arbeitsgruppe am MDC. „Dabei war es unerheblich, ob diese Menschen zuvor an Malaria erkrankt gewesen waren oder welcher ethnischen Gruppe sie angehörten.“
Der Diebstahl folgt einem Plan
Das fremde Material habe man zudem ausschließlich in einer bestimmten Region der Antikörper gefunden, den sogenannten schweren Ketten der Y-förmigen Eiweißmoleküle, sagt Lebedin. Für ihn und seine Kolleg*innen war dies ein wichtiger Hinweis darauf, dass der „Diebstahl“ des fremden Erbmaterials offenbar einem gewissen Plan folgte. Das Indiz hierfür fanden die Forschenden, als sie die entwendeten Fragmente auf dem menschlichen Genom kartierten und dabei auffällige Muster ihrer Herkunft entdeckten. „Sie stammten zum Beispiel besonders oft aus den Mitochondrien der Zellen oder aus den Enden der Chromosomen im Zellkern“, erläutert Lebedin.
Für ihre Studie hatten die Forscher*innen eigens eine Technik entwickelt, um das Transkript der Antikörper – also die RNA-Matrize, die bei der Proteinherstellung abgelesen wird – im Hochdurchsatz zu untersuchen. „Wir brauchten ein besonders empfindliches Verfahren, da Antikörper mit fremden Bausteinen in der breiten Masse dieser Abwehrstoffe ansonsten leicht untergehen“, sagt de la Rosa. „Denn nur etwa einer von zehn- bis hunderttausend Antikörpern im Blut besitzt diese speziellen Merkmale.“ Aber anscheinend reiche das aus, um das Immunsystem unter gewissen Umständen – wie bei Malaria – besonders kampffähig zu machen.
Das Ziel ist ein zellulärer Impfstoff
„Bislang war man davon ausgegangen, dass die Vielfalt der Antikörper allein durch Mutationen innerhalb der Antikörper-Gene entsteht“, erklärt de la Rosa. Doch offenbar sei diese Annahme falsch gewesen. „Trotzdem wirft unsere Studie nun eigentlich mehr Fragen auf, als dass sie Antworten liefert“, sagt die Forscherin. Die beiden für de la Rosa wichtigsten Fragen lauten: Wie funktioniert der DNA-Diebstahl im Detail? Und lässt er sich womöglich nutzen, um künftig gezielt neuartige Antikörper und B-Zellen, die diese produzieren, künstlich im Labor herzustellen?
„Während der Corona-Pandemie haben Millionen Menschen weltweit gelernt und auch persönlich erlebt, wie wichtig Antikörper sind, denn sie schützen uns vor Krankheitserregern wie SARS-CoV-2. Sie werden gebildet, wenn wir infiziert oder geimpft sind“, sagt die Immunologin. „Für mich ist es sehr bedeutsam zu verstehen, wie die Vielfalt der Antikörper zustande kommt, denn nur so können wir neue Ansätze entwickeln, die uns in Zukunft zu noch besseren Impfstoffen verhelfen.“ Unter anderem schwebt Kathrin de la Rosa ein zellulärer Impfstoff vor. Für ihn möchte sie körpereigene B-Zellen in ihrem Labor so verändern, dass sie Antikörper produzieren, die noch schlagkräftiger sind als ihre natürlichen Vorbilder.
Text: Anke Brodmerkel
Weiterführende Informationen
- AG Kathrin de la Rosa am BIH
- Portrait: Ingenieruin des Abwehrsystems
- Johanna Quandt-Professur Kathrin de la Rosa
Literatur
Mikhail Lebedin et al. (2022): “Different classes of genomic inserts contribute to human antibody diversity.” PNAS, DOI: 10.1073/pnas.2205470119
Kontakte
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Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.
Das Berlin Institute of Health (BIH)
Das Berlin Institute of Health (BIH) ist eine Wissenschaftseinrichtung für Translation und Präzisionsmedizin. Das BIH widmet sich neuen Ansätzen für bessere Vorhersagen und neuartigen Therapien bei progredienten Krankheiten, um Menschen Lebensqualität zurückzugeben oder sie zu erhalten. Mit translationaler Forschung und Innovationen ebnet das BIH den Weg für eine nutzenorientierte personalisierte Gesundheitsversorgung. Das BIH wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und zu zehn Prozent vom Land Berlin gefördert. Die Gründungsinstitutionen Charité – Universitätsmedizin Berlin und Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) sind im BIH eigenständige Gliedkörperschaften.