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Wie das Gehirn Wärme und Kälte erkennt

Wenn wir Dinge berühren, nehmen wir gleichzeitig ihre Temperatur wahr. Dafür ist eine ganz bestimmte Region des Gehirns verantwortlich, berichten Forscher*innen des Max Delbrück Center um James Poulet in „Nature“. Sie haben im hinteren Teil der Inselrinde einen „thermischen Kortex“ entdeckt.

Ein heißer Kaffee, eine kalte Limonade – die Temperatur von Objekten wahrnehmen zu können, ist überlebenswichtig. Seit fast 100 Jahren haben Wissenschaftler*innen versucht, diese Fähigkeit im Gehirn zu lokalisieren. Manche haben vermutet, dass es einen „thermischen Kortex“ gebe. Doch ob so ein spezielles Zentrum existiert, war umstritten – bis jetzt.

Forscher*innen des Max Delbrück Center haben im Gehirn von Mäusen einen „thermischen Kortex“ identifiziert und Nervenzellen (Neuronen) gefunden, die Kälte oder Wärme registrieren. Ihre Ergebnisse hat die Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.

Das Gehirn und seine Funktionsweise zu verstehen, gehört zu den ganz großen Fragen der Wissenschaft.
James Poulet
James Poulet Leiter der AG "Neuronale Schaltkreise und Verhalten"

„Das Gehirn und seine Funktionsweise zu verstehen, gehört zu den ganz großen Fragen der Wissenschaft. Die sensorische Wahrnehmung ist ein guter Ansatzpunkt, sich den Antworten zu nähern“, sagt Professor James Poulet, Neurowissenschaftler am Max Delbrück Center und an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er hat die Studie geleitet. „Es gibt leider viele unheilbare Erkrankungen des Gehirns, und manche verändern die Sinneswahrnehmung. Was wir über die Schaltkreise des gesunden Gehirns wissen, wird auf lange Sicht dazu beitragen, dem kranken Gehirn zu helfen.“

Wenn ein Mensch sich bewegt, verarbeitet das Gehirn die von den Sinnesorganen übermittelten Informationen und konstruiert daraus die bewusste Wahrnehmung der Umwelt. Das geschieht vor allem in der gefalteten äußeren Schicht des Gehirns, dem Kortex. Wenn die Haut mit Kälte in Kontakt kommt, reagieren die Neuronen im primären somatosensorischen Kortex, hatten Poulet und seine Kolleg*innen zuvor in einer Studie herausgefunden. Deshalb haben sie erwartet, dass auch Wärme in dieser Region des Gehirns verarbeitet wird.

Bestimmte Neuronen reagieren auf Kälte und Wärme

Dr. Mikkel Vestergaard und Dr. Mario Carta, beide Erstautoren des Papers und Wissenschaftler in der Arbeitsgruppe „Neuronale Schaltkreise und Verhalten“, testeten diese Hypothese bei Mäusen. Sie setzten die Vorderpfoten der Tiere milden Temperaturen aus. Mithilfe von bildgebenden Verfahren analysierten sie, welcher Teil des Gehirns auf Veränderungen der Hauttemperatur reagierte.

Überrascht stellten sie fest, dass der primäre somatosensorische Kortex gar nicht auf Wärme reagierte. Stattdessen leuchteten die Neuronen in einer anderen Hirnregion auf: in der hinteren Inselrinde. „Der bisher nur schwer greifbare thermische Kortex befindet sich anscheinend in der hinteren Inselrinde, wie unsere Studie zeigt“, sagt Carta. 

Um sich die Reaktionen der einzelnen Neuronen in der hinteren Inselrinde anzuschauen, nutzte das Team ein Zwei-Photonen-Mikroskop. „Manche der Neuronen antworteten nur auf Kälte, andere nur auf Wärme. Und viele reagierten auf beides“, sagt Vestergaard.

Die Weitfeld-Kalzium-Bildgebung zeigt, wie der hintere Teil der Inselrinde der Maus auf kalte (links) und warme (rechts) Temperaturreize an der Vorderpfote reagiert.

Die Reaktion auf Wärme und Kälte lief recht unterschiedlich ab. Die für Wärme zuständigen Neuronen sprachen auf die absolute Temperatur an, während die für Kälte zuständigen Neuronen auch Temperaturunterschiede registrierten. Die Reaktionen auf Kälte waren schneller, sie ließen außerdem schneller wieder nach. „Das legt nahe, dass es unterschiedliche Signalwege für die Wahrnehmung von Kälte und Wärme gibt“, sagt Vestergaard.

Der Weg der Temperatur

Um zu beweisen, dass die Inselrinde für die Temperaturwahrnehmung unentbehrlich ist, trainierten die Wissenschaftler*innen Labormäuse so, dass sie kühle oder warme Temperaturen mit ihrem Verhalten anzeigten. Das Team nutzte Optogenetik, um die Inselrinde vorübergehend „auszuschalten“, während die Mäuse dem jeweiligen Reiz ausgesetzt waren. „In diesen Fällen haben die Mäuse den Temperaturreiz nicht mehr gefühlt“, sagt Poulet. Sobald die Inselrinde wieder normal reagieren konnte, empfanden die Mäuse auch wieder Wärme oder Kälte.

Epifluoreszenzbild der hinteren Inselrinde der Maus: Die Neuronen exprimieren ein kalziumempfindliches Protein grün und einen allgemeinen neuronalen Marker rot.

Künftig will das Team um Poulet den ganzen Weg der Temperatur von der Haut über das Rückenmark in den Thalamus und schließlich zum Kortex analysieren. „Wir wollen wissen, wo und wie die Informationen zur Temperatur an den unterschiedlichen Stationen repräsentiert sind. Und wie sie sich entlang des Weges verändern“, sagt er.

Sie werden sich auch einem größeren Rätsel zuwenden, das sich aus dieser Studie ergeben hat: Warum reagiert der primäre somatosensorische Kortex auf Kälte, aber nicht auf Wärme? Eine These ist, dass diese Region eher für die Wahrnehmung komplexer Texturen zuständig ist – zum Beispiel, wenn sich etwas klamm, glatt oder metallisch anfühlt. „Vielleicht helfen Informationen über Kälte, komplexe Oberflächenstrukturen zu unterscheiden“, sagt Poulet. „Wir brauchen mehr Versuche, um das wirklich zu verstehen. Es ist faszinierend, aber noch recht unklar.“

gan

 

Weiterführende Informationen

 

Literatur

Mikkel Vestergaard, Mario Carta et al. (2023): “The cellular coding of temperature in the mammalian cortex”, Nature, DOI: 10.1038/s41586-023-05705-5

 

Fotos zum Download

Die Weitfeld-Kalzium-Bildgebung zeigt, wie der hintere Teil der Inselrinde der Maus auf kalte (links) und warme (rechts) Temperaturreize an der Vorderpfote reagiert. Foto: Mikkel Vestergaard, AG Poulet, Max Delbrück Center

Epifluoreszenzbild der hinteren Inselrinde der Maus: Die Neuronen exprimieren ein kalziumempfindliches Protein grün und einen allgemeinen neuronalen Marker rot. Foto: Mikkel Vestergaard, AG Poulet, Max Delbrück Center

 

Kontakte

Prof. Dr. James Poulet
Leiter der Arbeitsgruppe „Neuronale Schaltkreise und Verhalten“
Max Delbrück Center
+49-(0)30-9406-2335
james.poulet@mdc-berlin.de

Jana Schlütter
Redakteurin, Kommunikation
Max Delbrück Center
+49-(0)30-9406-2121
jana.schluetter@mdc-berlin.de oder presse@mdc-berlin.de

Max Delbrück Center

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.