Blood

Wie Zellen sich vor mechanischer Überreizung schützen

Die Ionenkanäle PIEZO 1 und PIEZO 2 sind dafür bekannt, dass sie sich auf leichteste Berührungsreize hin öffnen. Nun haben MDC-Forscher herausgefunden, dass die Kanäle auch auf Spannungsänderungen reagieren. Diese Spannungsempfindlichkeit scheint eine evolutionär sehr alte Eigenschaft der Kanäle zu sein, die Zellen vor mechanischem Stress schützt.

Ein leichter Lufthauch, ein sanftes Streicheln – die menschliche Haut ist in der Lage, selbst leichteste Berührungsreize wahrzunehmen. Maßgeblich daran beteiligt ist ein erst vor sieben Jahren entdeckter Ionenkanal in den Membranen der Hautsinneszellen: PIEZO 2 reagiert auf mechanische Reize, indem er sich öffnet, wenn die ihn umgebende Zellmembran sich dehnt. Sobald der Kanal sich öffnet, sendet die Sinneszelle Signale zum Gehirn.

PIEZO 1 öffnet sich nach dem gleichen Prinzip wie PIEZO 2. Er ist allerdings nicht am Tastsinn beteiligt, sondern an der Bildung von Blutgefäßen. Neue Adern entstehen nämlich immer nur dann, wenn im Körper ein Blutfluss registriert wird. PIEZO 1 ist der Sensor, der das strömende Blut wahrnimmt. Aus diesem Grund ist der Kanal für den Menschen und andere Säugetiere überlebensnotwendig. Mäuse, denen PIEZO 1 fehlt, weil das Gen gelöscht wurde, sterben entweder schon vor oder kurz nach ihrer Geburt.

Die meisten PIEZO-Kanäle sind geschlossen

Dass Menschen krank werden, weil die Spannungsabhängigkeit ihrer PIEZO-Kanäle verändert ist, zeigt, wie bedeutsam diese Eigenschaft ist.
Prof. Dr. Gary Lewin Gruppenleiter "Molekulare Physiologie der somatosensorischen Wahrnehmung"

Bislang war man – vielleicht aufgrund des einzigartigen Aufbaus der beiden Ionenkanäle, der sich von dem Aufbau klassischer, spannungsabhängiger Kanäle grundsätzlich unterscheidet – davon ausgegangen, dass PIEZO 1 und PIEZO 2 allein auf mechanische Reize reagieren. Ein Team um Professor Gary Lewin vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) in Berlin hat jetzt jedoch herausgefunden, dass die PIEZO-Kanäle tatsächlich sehr empfindlich Spannungsänderungen registrieren.

Mithilfe dieser Fähigkeit schützten sich Zellen sehr wahrscheinlich vor mechanischer Überreizung, berichten der italienische Erstautor und Initiator der Studie, Dr. Mirko Moroni aus der Arbeitsgruppe Lewins, und seine Kolleginnen und Kollegen im Fachblatt Nature Communications. Unterstützt wurde die Arbeit von der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Schon Fliegen und Fische besitzen den Schutzmechanismus

„Normalerweise, das heißt bei einem Membranpotenzial von zirka -60 mV, sind rund 95 Prozent aller PIEZO-Kanäle geschlossen und lassen sich auch auf mechanische Reize hin nicht öffnen“, erklärt Lewin. „Erst wenn sich die Spannung ändert und die Membran depolarisiert wird, werden mehr Kanäle aktivierbar.“ Hierbei scheine es sich erstens um eine evolutionär sehr alte und zweitens um eine äußerst wichtige Eigenschaft zu handeln, betont der Forscher.

Dass der erst jetzt entdeckte Schutzmechanismus bereits viele Millionen Jahre zu existieren scheint, schließen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Tatsache, dass sie auch bei Fruchtfliegen und Zebrafischen auf die Spannungsabhängigkeit der PIEZO-Kanäle gestoßen sind. Bei beiden Spezies sei diese Eigenschaft sogar noch ausgeprägter als bei evolutionär jüngeren Arten wie Maus und Mensch, berichten die Forscher.

Eine Mutation in PIEZO 1 schädigt die roten Blutkörperchen

Wie wichtig der Regulation der Spannung ist, zeigt jedoch nicht allein die Tatsache, dass er offenbar schon seit weit mehr als hundert Millionen Jahren existiert und sich folglich in der Evolution immer wieder durchgesetzt hat. Moroni ist darüber hinaus bei PIEZO-1-Kanälen menschlicher Blutzellen auf eine Mutation gestoßen, die die Spannungsabhängigkeit dieser Ionenkanäle verändert: Sie reagieren auf Änderungen des Membranpotenzials viel sensibler und werden somit auch mechanischen Reizen gegenüber empfindlicher.

„Menschen mit einer solchen Genveränderung leiden an einer Krankheit namens hereditärer Xerocytose“, sagt Lewin. Dabei handelt es sich um eine angeborene Anomalie der roten Blutkörperchen, die bei den betroffenen Patienten zur Blutarmut führt. Auch Eisschnellläuferin Claudia Pechstein leidet an einer milden Form dieser Erkrankung, weshalb man bei ihr im Jahr 2014 zu viele unreife rote Blutkörperchen fand und sie deshalb des Dopings verdächtigte.

Entdeckt wurde der Mechanismus eigentlich nur aus Zufall

„Dass Menschen krank werden, weil die Spannungsabhängigkeit ihrer PIEZO-Kanäle verändert ist, zeigt, wie bedeutsam diese Eigenschaft ist. Auch wenn sie so lange unbemerkt geblieben ist – und Dr. Mirko Moroni sie fast zufällig als Erster entdeckt hat“, sagt Lewin. Anscheinend müssten sich die Blutzellen über diesen Mechanismus vor mechanischem Stress schützen, dem sie ansonsten bei ihrem Fluss durch die engen Blutgefäße permanent ausgesetzt seien. Als nächstes wollen Lewin und seine Kolleginnen und Kollegen nun herausfinden, welchen Einfluss eine veränderte Spannungsabhängigkeit von PIEZO 2 womöglich auf den Tastsinn hat.

Weiterführende Informationen

Kontakte

Prof. Gary Lewin
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft
Gruppenleiter Molekulare Physiologie der somatosensorischen Wahrnehmung

glewin@mdc-berlin.de

Jana Schlütter
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft
Redakteurin, Abteilung Kommunikation

+49 30 9406-2121
jana.schluetter@mdc-berlin.de

Literatur

Mirko Moroni et al. (2018): "Voltage gating of mechanosensitive PIEZO channels“, Nature Communications 9. doi:10.1038/s41467-018-03502-7

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den MDC-Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 60 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organübergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das MDC fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am MDC arbeiten 1600 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete MDC zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.