Andrei Sacharow

„Ein weiterer Sargnagel für die Sowjetunion"

Dr. Oksana Seumenicht, Referentin, Abteilung Strategische Kooperationen und Forschungsförderung

Ich bin hinter dem Eisernen Vorhang geboren. In einem Dorf, dessen Name nur noch in meinem Reisepass existiert.

Ehrlich gesagt habe ich an diesen besonderen Tag, den 9. November 1989, keine präzise Erinnerung. Es ist eigenartig, wenn ein so wichtiger Tag in die eigene Lebensspanne fällt und man nichts von den Vorgängen mitbekommen hat. Andererseits waren die Jahre damals auch in meinem eigenen Land sehr intensiv, voller dramatischer, unvorstellbarer politischer Ereignisse. Ich glaube, das macht verständlich, dass der Fall der Berliner Mauer im weit entfernten Deutschland für mich tatsächlich nur ein sehr fernes Geschehen war.

The author with her son in 1989.

1989 studierte ich im dritten Jahr Physik an der damaligen Taras Schewtschenko-Staatsuniversität Kiev. Ich lebte in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die ein Teil der Sowjetunion war. Die Universität heißt heute Taras Schewtschenko-Nationaluniversität Kyiv, Ukraine. Die veränderte Schreibweise, Kyiv statt Kiev, wurde eingeführt, um den historischen Namen der Stadt so wiederzugeben, wie ihn die Menschen aussprechen, die seit über 1500 Jahren dort leben. Es war einer von vielen Versuchen meiner Nation, ihre Identität zurückzugewinnen. Nach einer einjährigen akademischen Pause im Anschluss an die Geburt meines Sohnes hatte ich mein Studium gerade wieder aufgenommen. Ich war so damit beschäftigt, einem Kleinkind, das gerade in die Kita kam, und zugleich meinen Seminaren in Elektrodynamik und Quantenmechanik gerecht zu werden, dass mich von dem politischen Aufruhr in meiner Umgebung nur wenig erreichte.

Ich habe jedoch eine sehr deutlichen Erinnerung an einen anderen Tag im Jahr 1989, nämlich den 9. Juni. Im Fernsehen sah ich die Ansprache des Friedensnobelpreisträgers von 1975, Andrej Sacharow, vor dem 1. Kongress der Volkdeputierten der Sowjetunion, worin er die Aufhebung von Artikel 6 der sowjetischen Verfassung forderte, die das politischen Monopol der kommunistischen Partei sicherte.

Er durfte seine Rede nicht beenden. Dieser bescheidene, weise Mann wurde von der Mehrheit dieser „Vertreter des Volkes“ ausgelacht. Ich erinnere mich an ein überwältigendes Gefühl der Hilflosigkeit – noch wusste ich kaum etwas davon, dass im scheinbar unzerstörbaren Gebäude des blutigen sowjetischen Reichs bereits erste Risse aufgetreten waren.

Ich erinnere mich an ein überwältigendes Gefühl der Hilflosigkeit
Oksana Seumenicht
Oksana Seumenicht ‘Referentin, Abteilung Strategische Kooperationen und Forschungsförderung

Später erst wurde mir klar, dass ich das Privileg genossen hatte, gemeinsam mit einigen aktiven Teilnehmern des ersten ukrainischen Majdan zu studieren und mit ihnen das Wohnheim zu teilen. Im Oktober 1990 kam es zu den Ereignissen, die als „Revolution auf dem Granit“ bekannt wurden. Angeführt von der Gewerkschaft der Studierenden, war dies wahrscheinlich der erste friedliche Massenprotest – 100.000 Menschen kamen am ersten Tag zur Demonstration. Es war wirkungsvoll und führte zur Abdankung eines der höchsten Funktionäre, des Vorsitzenden des Ministerrats der ukrainischen Sowjetrepublik. Das war unglaublich – einige Mitstudierende im Hungerstreik auf dem Platz der Oktoberrevolution (jetzt Majdan Nezalezhnosti, auf Deutsch Unabhängigkeitsplatz) besiegten die allmächtige kommunistische Partei. Und dies sollte bloß ein weiterer Sargnagel für die Sowjetunion werden. Die Ereignisse führten dazu, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit zurückgewann und ich letztlich die Möglichkeit bekam, zunächst in Dänemark und später in Deutschland und Großbritannien als Wissenschaftlerin zu arbeiten.

Für mich sind Konzepte wie Freiheit, Menschenrechte und Demokratie nicht einfach Wörter und etwas Selbstverständliches.
Oksana Seumenicht
Oksana Seumenicht Referentin, Abteilung Strategische Kooperationen und Forschungsförderung

Ich bin hinter dem Eisernen Vorhang geboren. In einem Dorf, dessen Name nur noch in meinem Reisepass existiert – er wurde unlängst im Rahmen der Gesetze zur Dekommunisierung geändert. In der Ukraine, einem Land, dem immer noch manche das Existenzrecht absprechen. Für mich sind Konzepte wie Freiheit, Menschenrechte und Demokratie nicht einfach Wörter und etwas Selbstverständliches. Ich erinnere mich an den Anblick sowjetischer Panzer in den Straßen von Kyiv im August 1991. Ich finde es eigenartig und schwer verständlich, wie hier im Westen, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, gar nicht so wenige Menschen nicht zu schätzen scheinen, was sie gewonnen haben – nämlich Werte, für deren Erringung meine Landsleute immer noch mit ihrem Leben bezahlen müssen.

 

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