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📺 Zuckendes Leben aus Blut und Seide

Dr. Sebastian Diecke, Leiter der Technologieplattform Stammzellen von MDC und BIH, kann nicht nur Wissenschaft, er verbindet sie auch mit Kunst. Ein Projekt australischer Künstler, an dem er beteiligt ist, erhielt beim diesjährigen Japan Media Arts Festival einen „Award of Excellence“.

Sphärische Klänge füllen den Raum. Von seiner Decke hängt ein ringförmiger Apparat herab. Die Besucher*innen recken die Köpfe, um durch die Bullaugen an seiner Unterseite in sein Inneres zu spähen. Kleine, gallertartige Lebewesen ziehen zuckend ihre Bahn in einer klaren Flüssigkeit.  Lebewesen?

Nicht ganz. Von „biologischen Automaten“ sprechen die Schöpfer dieser Kunstinstallation: die australischen Künstler Guy Ben-Ary und Nathan Thompson sowie der Berliner Wissenschaftler Dr. Sebastian Diecke. Diese bestehen aus menschlichen Herzmuskelzellen, die Guy Ben-Ary unter Anleitung von Sebastian Diecke aus induzierten pluripotenten Stammzellen gezüchtet und an Stützstrukturen aus Seide angeheftet hat. Entlang dieser filigranen Gerüste wuchsen die Herzmuskelzellen im Inkubator zu dreidimensionalen Gebilden heran, die mit bloßem Auge erkennbar sind. Sie erinnern an kleine Quallen und pulsieren in einem Rhythmus, der unserem Herzschlag gleicht. „Bricolage“ nennen die Künstler und der Wissenschaftler ihr Werk, das erstmals am 6. Februar 2020 im Fremantle Arts Centre in Westaustralien gezeigt wurde. Der französische Begriff bedeutet so viel wie „selber machen“. In der Kunst steht „Bricolage“ für Werke, die aus unerwarteten Kunstmaterialien bestehen; aus Müll etwa, aus Alltagsgegenständen oder Treibholz. Oder eben: aus menschlichen Zellen. Im März erhielt das Werk beim diesjährigen Japan Media Arts Festival den prestigeträchtigen „Award of Excellence“.

Bricolage - Video Documentation von Guy Ben-Ary

Nicht von dieser Welt

„Bricolage“ ist nicht die erste künstlerisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit von Ben-Ary und Diecke. Schon 2017 schuf Ben-Ary in Berlin mit Dieckes Unterstützung cellF, den weltweiten ersten „neuronalen Synthesizer“. Sebastian Diecke leitet die Technologieplattform Pluripotente Stammzellen, die das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft in Zusammenarbeit mit dem Berlin Institute of Health (BIH) etabliert hat. Ben-Ary arbeitet seit mehr als 20 Jahren bei SymbioticA, einem Labor an der University of Western Australia in Perth, in dem Wissenschaftler*innen und Künstler*innen gemeinsam mit den Mitteln der Kunst die Dimensionen der Wissenschaft, ihre Chancen und Risiken ausloten. Für das cellF-Experiment schnitt sich der Laborkünstler ein Stück Haut aus seinem Unterarm, programmierte die Hautzellen um in induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) und züchtete daraus Nervenzellen. Diese verknüpfte er mit einer Maschine, die die Impulse der Nervenzellen in Klänge verwandelte. Bei einem Konzert im Berliner Haus der Kulturen der Welt versetzte ein Schlagzeuger mit seinem Trommelwirbel die Neuronen in Schwingungen. Der Synthesizer übersetzte diese Schwingungen in Töne, die irgendwie nicht von dieser Welt waren.

Sebastian und Ben, wie ist eure Zusammenarbeit zustande gekommen?

Sebastian Diecke: Über eine ehemalige MDC-Mitarbeiterin, die in den Kulturbetrieb gewechselt ist. Sie ist auf mich zugekommen, hat mir von cellF erzählt und sagte, die Künstler suchen jemanden, der sie bei der behördlichen Genehmigung unterstützt. Für Stammzellen gelten bestimmte Vorgaben, sie dürfen nicht einfach so quer durch die Stadt gefahren werden. Ich fand das extrem spannend – hätte nie gedacht, dass ich mal bei so etwas Verrücktem mitmachen würde. cellF war sehr faszinierend, diese außergewöhnliche Musik, die aus den rhythmischen Impulsen der Neuronen hervorgegangen ist. Deshalb war ich sofort wieder dabei, als es um das nächste Projekt ging.

Wissenschaftler*innen und Künstler*innen sind gar nicht so verschieden: Die einen wie die anderen sind Forschende.
Guy Ben-Ary
Guy Ben-Ary Künstler aus Perth, Australien

Guy Ben-Ary: Ich weiß nicht mehr, wann genau wir uns kennengelernt haben. Jemand hat mir Sebastian vorgestellt, und er war erstaunlich. Ich habe in meinem Leben schon mit vielen Forscher*innen zusammengearbeitet. In meiner Welt gibt es zwei Arten von Wissenschaftler*innen: diejenigen, die aufgeschlossen gegenüber Künstler*innen sind, und diejenigen, die nicht aufgeschlossen sind. Sebastian ist sehr freundlich und sehr großzügig. Er hat uns nicht einfach in organisatorischer Hinsicht unterstützt. Er hat uns mit Zellen versorgt, er war immer für uns da, er hat uns an seinem Wissen teilhaben lassen und damit ganz wesentlich zur Konzeption von „Bricolage“ beigetragen. Deswegen benennen wir ihn ja auch als Miturheber von „Bricolage“.

Wissenschaftler*innen und Künstler*innen sprechen nicht dieselbe Sprache. Habt ihr manchmal Verständigungsprobleme?

Sebastian Diecke: Mit Guy verstehe ich mich sehr gut. Er verfügt über ein ausgeprägtes wissenschaftliches Grundverständnis. Das ist nicht bei jedem Künstler oder jeder Künstlerin so. Manche sind schon in gewisser Weise sehr abgehoben, da ist es dann schwierig, auf einen Nenner zu kommen.

Guy Ben-Ary: Wissenschaftler*innen und Künstler*innen sind gar nicht so verschieden: Die einen wie die anderen sind Forschende. Es stimmt nicht, dass Wissenschaftler*innen ausschließlich rational und Künstler*innen per se kreativ sind.  Es gibt sehr kreative Wissenschaftler*innen, und es gibt Künstler*innen, die sehr gut zeichnen können, was sie noch lange nicht kreativ macht. Aber: Wissenschaftler*innen und Künstler*innen folgen unterschiedlichen Impulsen. Sebastian versucht, Mechanismen zu ergründen und zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Er sammelt Daten und versucht, die Dinge experimentell wiederholbar zu machen. Seine Absicht als Wissenschaftler besteht darin, den Nebel zu lichten. Ich als Künstler hingegen mag den Nebel. Ich tue Dinge, die nicht wiederholbar sind, ich übertreibe sie. Meine Forschung ist nicht naturwissenschaftlich, sondern kulturell. Trotzdem habe ich keinerlei Verständigungsprobleme mit Sebastian. Ich weiß genau, was er mit „abgehoben“ meint. Ich arbeite seit 20 Jahren bei SymbioticA und kenne mich mit Zellkulturen, Tissue engineering und solchen Sachen ganz gut aus. Künstler*innen aus der ganzen Welt kommen zu uns. Und viele von ihnen haben sehr unrealistische Ideen. Das ist ja schön und gut, wenn sie ihre kreativen Projekte entwickeln. Aber wenn sie an einen Punkt kommen, an dem sie sich mit Wissenschaftler*innen zusammensetzen, dann müssen sie wissen, wie die biologischen Technologien funktionieren, die sie anwenden wollen. Sie müssen auch die ethischen Anforderungen kennen, denen sie gerecht werden müssen, wenn sie solche Experimente ausführen. Viele machen da einfach nicht ihre Hausaufgaben.

Ich sehe Kunst als Mittel, eine breite Öffentlichkeit über unsere Forschungsarbeit zu informieren. Zu zeigen, was Stammzellen sind und wofür sie eingesetzt werden können.
Dr. Sebastian Diecke
Dr. Sebastian Diecke Leiter der Technologieplattform Pluripotente Stammzellen

Sebastian Diecke: Einmal hatte ich eine Anfrage von einer Künstlerin, die wollte aus ihren eigenen Zellen Fleisch züchten, das sie dann bei einer Performance essen wollte. Da hört es für mich auf. Das ist in meinen Augen keine Kunst, das ist reine Provokation und aus unterschiedlichen ethischen Aspekten nicht vertretbar. An so etwas beteilige ich mich nicht. Ich möchte aufklären, informieren und Interesse wecken, nicht nur provozieren.

Aufklären worüber?

Sebastian Diecke: Zum einen sehe ich Kunst als Mittel, eine breite Öffentlichkeit über unsere Forschungsarbeit zu informieren. Zu zeigen, was Stammzellen sind und wofür sie eingesetzt werden können. Zum anderen kann man mithilfe der Kunst gut mit den Menschen ins Gespräch kommen und Diskussionen anstoßen. Indem man zeigt, was technologisch möglich ist, kann man auch die Frage stellen, wie weit die Wissenschaft gehen darf. Ob man alles tun sollte, was geht. Oder ob es nicht irgendwo eine Grenze gibt, die man nicht überschreiten sollte.

 Guy Ben-Ary: Ja, genau. Die Menschen sollen nachdenken über neue Technologien, die wir ganz selbstverständlich nutzen. Technologien werden in meinen Augen zu oft verherrlicht. Ich wünsche mir, dass wir innehalten und uns fragen, wofür wir sie wirklich brauchen. Diese Technologien können viel Gutes bewirken. Sie haben aber auch das Potenzial, unser Leben, unsere Realität, unsere Kinder, die zukünftig geboren werden, zu verändern. Sie können das Menschsein an und für sich verändern. Mit „Bricolage“ deuten wir an, dass es möglich werden könnte, auf technologischem Weg Leben zu erschaffen. Und wir sollten darüber nachdenken, ob wir das wirklich wollen.

Sind eure „biologischen Automaten“ denn wirklich lebendig?

Sebastian Diecke: Sie bestehen aus lebenden Herzmuskelzellen, die etwa 30 Tage lang gewachsen sind. Dann sind sie ausgereift und entwickeln sich nicht weiter. In einer Nährlösung können sie aber längere Zeitspannen überdauern. In diesem Sinne: Ja, sie sind lebendig.

Guy Ben-Ary: Unsere biologischen Automaten schwimmen nicht nur passiv in einer Flüssigkeit herum. Sie pulsieren und bewegen sich aus sich selbst heraus. Wenn Menschen etwas sehen, das sich aus eigener Kraft bewegt, dann nehmen sie als lebendig wahr – auch wenn sie nicht verstehen, was es ist. Die Ausstellungsbesucher rätseln über die fremdartige Lebendigkeit von „Bricolage“. Sind es Organismen aus der Tiefsee? Bislang unentdeckte Lebensformen? Was auch immer: In den Augen der Beobachter ist es lebendig.   

Warum müssen die Ausstellungsbesucher*innen nach oben blicken? Der Inkubator hängt über ihren Köpfen.

Guy Ben-Ary: Der Mensch geht immer davon aus, dass er anderen Tieren oder anderen Entitäten überlegen ist. Wir wollen diese Wahrnehmung umkehren: Nicht der Mensch steht über allem und blickt auf das übrige Leben hinab. Bei „Bricolage“ schaut er zu unserer Schöpfung auf. Wir spielen mit dem Gedanken, dass wir nicht wissen, wer wir sind, und dass wir nicht unbedingt besser sein müssen als die Entitäten im Inkubator.

Wird „Bricolage“ irgendwann in Berlin – vielleicht am MDC – zu sehen sein?

Sebastian Diecke: Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben und denken schon darüber nach, wie wir die Bio-Automaten dann phosphoreszieren lassen können. Corona-bedingt liegen aber derzeit alle Planungen auf Eis.

Das Interview führte Jana Ehrhardt-Joswig.

 

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