Was lesen Sie gerade, Frau Kedziora?
Ob Espresso, mit Milch als Cappuccino oder mit Wasser zum Americano verlängert, mit French Press gebrüht oder Filterkaffee – die Auswahl ist riesig und die Welt der Kaffee-Zubereitung ein eigenes Universum. Und wer kennt es nicht: Unabhängig von der Lieblingsvariante steigt der Duft des heißen Kaffee auf und verströmt seine Röstaromen. Aber ein Gedanke stört den Genuss: Nur noch kurz diese E-Mail abschicken, die To-do-Liste sortieren, den Müll rausbringen. Dafür reicht die Zeit doch! Und dann endlich die Tasse Kaffee genießen. Aber die Realität ist eine andere – der Kaffee ist nur noch lauwarm, schmeckt schal und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack, in vielerlei Hinsicht.
Ich gehöre zu den Menschen die sehr gerne Kaffee trinken und, wenn genügend Zeit, das auch zelebrieren. Das Buch „Bevor der Kaffee kalt wird“ des japanischen Autors Toshikazu Kawaguchi knüpft genau hier an und fragt:
„If you could go back in time, who would you want to meet?”
Wahrscheinlich hat sich jede*r von uns schon einmal gewünscht, in der Zeit zurückreisen zu können – um eine bestimmte Person noch einmal zu sehen, etwas Ungesagtes auszusprechen oder eine Entscheidung zu ändern. In dem kleinen, unscheinbaren Café „Funiculi Funicula“ in einer Nebenstraße Tokios verbirgt sich ein Geheimnis: Wer sich auf einen bestimmten Stuhl setzt, kann für einen kurzen Moment in die Vergangenheit reisen. Doch es gibt strenge Regeln – und eine davon lautet: Man kann die Gegenwart nicht verändern. Und doch verändert sich alles.
Toshikazu Kawaguchi’s Erzählung beschreibt in den vier miteinander verwobenen Kurzgeschichten „Die Liebenden“, „Das Paar“, „Die Schwestern“ und „Mutter und Kind“ die jeweiligen Beweggründe und den Verlauf der Zeitreisen. Ursprünglich als Theaterstück konzipiert, wurde es 2010 aufgeführt und gewann den Grand Prize beim Suginami Drama Festival. Besonders ist, dass die Geschichten ausschließlich in dem kleinen Café spielen, das schon seit mehr als 100 Jahren existiert. Durch diese Reduktion auf das Café und den besagten Stuhl, fokussiert sich die Geschichte auf die Beziehungen zwischen den Protagonist*innen. Der Leser verlässt das Café nicht, wird aber in den Geschichten mit in die Vergangenheit genommen. Der minimalistische Stil und der ruhige Ton des Buches erschaffen eine ganz eigene, fast meditative Atmosphäre und laden zur Selbstreflexion ein. Auch ich habe mich beim Lesen immer wieder gefragt, welchen Moment und welche Person ich wählen würde, wenn ich in die Vergangenheit reisen könnte.
Zum Schluss bleibt da noch die eine Frage: Wie lange dauert der Moment tatsächlich, bevor der Kaffee kalt wird? Wissenschaftlich betrachtet, lässt sich diese Zeit berechnen: Nehmen
wir eine durchschnittliche Außentemperatur von 21 Grad Celsius an, ein Volumen von 200 ml und eine Ausgangstemperatur von 90°C. Zusätzlich beeinflussen weitere Variablen wie das Material der Tasse, Luftzirkulation und Luftfeuchtigkeit und nicht zuletzt die persönliche Empfindung davon, wann Kaffee als „kalt“ gilt (vielleicht bei unter 30 Grad), die Dauer des Abkühlens. Wendet man das Newtonsche Abkühlungsgesetz an, das beschreibt, wie schnell sich ein Körper seiner Umgebungstemperatur angleicht, ergibt sich eine Zeitspanne von 30 bis 45 Minuten. Vielleicht ist es genau das, worauf das Buch hinauswill: Dass wir uns gelegentlich einen Moment der Ruhe gönnen, innehalten, achtsam sind und die wichtigen Wegmarken in unserem Leben erkennen – und einfach eine Tasse Kaffee trinken. Bevor sie kalt wird.
Toshikazu Kawaguchi: Bevor der Kaffee kalt wird. Droemer-Knaur, 2022
Zum Weiterlesen: Von Toshikazu Kawaguchi sind weitere Bände in dieser Reihe erschienen: „Bevor sich unsere Wege trennen“, „Bevor es für uns zu spät ist“, „Bevor die Erinnerung verblasst“.