Erhard Geißler: 66 Jahre Heinz Bielka und ich
Rede zum 90. Geburtstag von Heinz Bielka
„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an, …“ meinte einst Udo Jürgens. Vor 66 Jahren, im Frühsommer 1953, zogen Heinz Bielka und ich – etwa vier Wochen zeitversetzt – in Berlin-Buch zwischen den Gebäuden des Hufeland-Krankenhauses und Spargelfeldern den kopfsteingepflasterten Lindenberger Weg entlang zum Institut für Medizin und Biologie. Beide kamen wir als Studenten der Universität Leipzig. Bielka war mit einer klaren Vorstellung angereist. Bei Professor Arnold Graffi wollte er in dessen Abteilung für biologische Krebsforschung seine Diplomarbeit durchführen.
Ich hatte zunächst andere Absichten. Bereits in den Osterferien war ich kurz in Buch gewesen. Dort hatte ich mir von Professor Friedrich Windisch die Zusage geholt, in seiner Abteilung für Mikrobiologie ein sechswöchiges Berufspraktikum absolvieren zu dürfen. Zu meinem Glück klappte das aber dann nicht. Windisch hatte doch keinen Laborplatz für mich. Da ich nun aber einmal da war, könne ich es ja bei Professor Graffi versuchen, dort arbeite man auch mit Hefezellen… Die wurden von Inge Graffi und ihrem Kollegen Heinz Kriegel mit 3,4-Benzpyren und anderen polyzyklischen Kohlenwasserstoffen behandelt und mit UV-Licht bestrahlt. Damit erzeugte man photodynamischen Effekt. Mit dem wollte man damals chemische Kanzerogene untersuchen.
Meine entsprechende Anfrage wurde positiv beantwortet und so landete auch ich in der Graffischen Abteilung und war vom Chef und seinem Team, von den dort bearbeiteten Themen, vom Institutsklima, von den Arbeitsbedingungen und vor allem auch von der Tumorproblematik so beeindruckt, dass ich mir noch im Sommer 1953 nach Abschluss des Berufspraktikums die Zustimmung Graffis einholte, wie Heinz Bielka meine Diplomarbeit bei ihm durchführen zu können. Dazu reiste ich dann am 1. April 1954 an.
Glück gehabt
Es war wirklich großes Glück, dass wir auf Graffi und seine Mannschaft stießen. Graffi war nicht nur überaus sympathisch und liebenswert, sondern auch ein begnadeter Chef, der überaus interessiert an der Weiterbildung seiner Mitarbeiter war. Dazu, aber auch zur eigenen Informationsgewinnung veranstaltete er regelmäßig mittwochs ein Abteilungskolloquium, in dem von uns die internationale Literatur ausgewertet wurde, und zwar weit über das Krebsgebiet hinaus. Heinz Bielka war dabei sein äußerst gewissenhafter Gehilfe: Er wählte die zu referierenden Artikel aus und teilte sie auf uns Wissenschaftler auf.
Die Sitzungen zogen sich über jeweils mehrere Stunden hin. Einer inoffiziellen Vereinbarung folgend machte Graffi Schluss, wenn ich mehrere Male laut und ostentativ gegähnt hatte. Dann folgte in kleinerem Kreis, mit Heinz und mit Günter Sydow, die übliche Skatrunde. Einmal, wenn ich mich recht erinnerte, spielte sogar Graffi mit und verlor mit Pauken und Trompeten. Ein anderes Mal wurde das Kolloquium vorzeitig beendet, weil wir dann mit zu Graffis in die Wohnung im Mitarbeiterhaus kommen durften. Dort wurde im Fernsehen ein Fußballspiel übertragen.
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Das Ostberliner Institut für Medizin und Biologie und speziell Graffis Abteilung genossen ab der Mitte der 1950er Jahre für mindestens eine Dekade Weltruf.
Wissenschaftler aus aller Welt kamen nach Buch, vor allem im Rahmen des 1959er Berliner Cancerogenese-Symposium, an dessen Vorbereitung und Durchführung Bielka erheblichen Anteil hatte.
Bielka mit Graffi und O.Mühlbock
Bielka hatte ja inzwischen überaus fleißig gearbeitet. Bereits 1954 bzw.1956 konnte er erfolgreich diplomieren und promovieren. In dieser Zeit wurde er zum wichtigsten Mitarbeiter von Graffi.
Sogar ein international stark beachtetes Buch hatte Graffi gemeinsam mit ihm verfasst.[1]
Einer der Teilnehmer am 1959er Symposium war Karl Heinrich Bauer, der Nestor der Deutschen Krebsforschung. Bauer bemühte sich zu dieser Zeit hartnäckig um die Einrichtung eines westdeutschen Krebsforschungszentrums. Deshalb war sein von Graffi und Bielka während des Symposiums organisierter Besuch in Buch für den Heidelberger Pathologen ein Aha-Erlebnis: So etwas gab es in der Bundesrepublik damals noch nicht. Später erinnerte er sich: „Immer wieder wird es mir wie ein Wissenschaftswunder vorkommen, als ich Ende 1959 anlässlich eines Berliner Symposiums über Carcinogenese in Berlin-Buch bereits verwirklicht sah, was wir in Heidelberg erst erstrebten. […] Ich bekam in Berlin Buch, aber auch bei anderen Stellen, Einblicke in alles, was mir für unseren Heidelberger Plan wichtig erschien“.[2]
Zwei Jahre nach dem Berliner Symposium legte Bauer eine Denkschrift zur Errichtung eines Deutschen Krebsforschungszentrums vor. Weitere drei Jahre später, am 31. Oktober 1964, wurde die erste Baustufe des DKFZ eröffnet.[3]
Selbst ich dufte am Cancerogenese-Symposium teilnehmen, aber nur als Außenseiter. Meine Hefe-Ergebnisse waren natürlich zu uninteressant. Stattdessen amtierte ich als Pressebeauftragter des Tagungskomitees und organisierte unter anderem, dass ADN, der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst täglich ausführlich über das Ereignis berichtete.
Die Gnade der späten Geburt
Wir hatten aber nicht nur Glück, sondern wurden auch der „Gnade der späten Geburt“ teilhaftig. Diesen Begriff prägte Günter Gaus für jene, die spät genug geboren worden waren, um nicht noch in den Kriegseinsatz einbezogen zu werden. Kanzler Kohl, Jahrgang 1930, machte den Begriff später populär.
Heinz Bielka war zwar noch am 18. April 1945 als „wehrtauglich“ gemustert worden und sollte am 15.Mai 1945 seinen Wehrdienst antreten. Aber genau eine Woche zuvor erfolgte die Kapitulation und Bielka war noch einmal davongekommen. Ich hatte mich als „Jungenschaftsführer“ zum Einsatz bei den Panzervernichtungstrupps der Hitlerjugend verpflichtet - aber meine resolute Mutter verhinderte das durch Intervention bei der Bannführung in Leipzig.
Wir haben es also überlebt. Aber die Kriegserinnerungen sitzen uns noch heute tief in den Knochen. Krisensituationen führten Heinz und mich und unsere Familien oft zusammen. 1961, als die sogenannte „Abstimmung mit den Füßen“ immer gewaltiger wurde und die DDR immer mehr ausblutete saßen wir in Heinz‘ Wohnung im Ärzte- und Schwesternhaus an der Robert-Rössle-Straße zusammen und fragten uns, ob auch wir dem Sogeffekt des Flüchtlingsstromes folgen und auch „abhauen“ sollten, wie man das damals nannte. Im Juli 1961 flohen 30.000 DDR-Bürger, am 12. August 1961, an einem einzigen Tag, 3.190 Personen. Würden wir vielleicht die Letzten sein, die in Buch die Lichter ausmachen? Einer der Hauptgründe, die uns zum Bleiben bewogen, war unser verehrter Chef Graffi.
Noch mehr hat uns dann 1962 die sogenannte Kubakrise beunruhigt. Allabendlich saßen wir während der drohenden Konfrontation der beiden Nuklearmächte mit unseren Frauen zusammen und überlegten sehr ernsthaft, ob wir vielleicht in den Höhlen in der Lausitz Schutz suchen sollten, von deren Atomsicherheit Heinz überzeugt war.
Die Maueröffnung am 9. November 1989, hingegen haben wir beide seelenruhig verschlafen. Ein Grund dafür war wohl, dass wir beide damals schon seit längerem Reisekader waren und nicht wie die Masse der DDR-Bürger verständlicherweise endlich mal „in den Westen“ wollten.
Und das verdanken wir wohl vor allem der „Gnade der frühen Geburt“.
Die Gnade der frühen Geburt
Dieser Begriff stammt nicht von Günter Gaus, sondern von mir. Diese Gnade erwies sich denen, die beispielsweise früh genug geboren wurden, um schon vor dem Mauerbau relativ sichere Positionen zu erreichen.
Beide konnten wir vor dem 13. August 1961 unser Biologie-Studium abschließen, mit der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin unbefristete Arbeitsverträge abschließen, ungehindert publizieren, wenig gehindert in alle Welt reisen und Kontakte zu einflussreichen Fachkollegen knüpfen. Ich durfte 1960 sogar einen dreimonatigen Studienaufenthalt am im Aufbau befindlichen Genetischen Institut der Universität Köln absolvieren. Anschließend durfte ich mich im Wintersemester 1960/61 bei Professor Herbert Lüers – dem sogenannten „Fliegen-Lüers“[4]– an der Freien Universität in Westberlin in Drosophila-Genetik ausbilden lassen. Heinz und ich hatten während unseres Biologie-Studiums keine Genetik-Vorlesungen hören können. So etwas gab es in der Lyssenko-Ära nur bei Professor Stubbe an der Universität Halle-Wittenberg. Lüers war übrigens ehemaliger Mitarbeiter von Timoféeff-Ressovsky und bis 1953 Leiter der Genetischen Abteilung des Bucher Instituts gewesen. Damals durfte er noch offiziell einem Ruf an die FU folgen. Ende 1960 setzte sich sein Nachfolger Friedrich Hertweck – dann schon illegal – auch nach dem Westen ab und ich wurde – zunächst kommissarisch – Leiter der Abteilung Genetik des dann gebildeten „Institutes für experimentelle Krebsforschung“.
Und wir konnten rechtzeitig aus der Partei austreten, in die wir beide 1949 bzw. 1950 mit großer Naivität in der Hoffnung eingetreten waren, so am Aufbau eines neuen, friedlichen und demokratischen Deutschlands aktiv teilnehmen zu können. Aber unsere Erwartungen wurden zunehmend enttäuscht. Bielka kam 1955 davon, ich trat 1956 aus, nachdem die Sowjets in Budapest eimarschiert waren. Aber wir waren – neben dem Arzt Hans Berndt und dem Biophysiker Rolf Wetzel – in den Bucher Instituten die Letzten, die so unsere jugendliche politische Fehlentscheidung korrigieren konnten. Als unser Kollege Thilo Schramm auch noch aus der Partei austreten wollte, war Schluss mit lustig. Der kam nicht mehr davon. Und Berndt trat dann später wieder in die Partei ein und machte, wie andere neue Parteigänger, steile Karriere.
Aber Bielka und ich machten auch Karriere. Und so verdanken wir der Gnade der frühen Geburt und nicht nur unseren fachlichen Bemühungen und Graffis Unterstützung, dass wir nach dem Mauerbau trotz unserer makelhaften Kaderakte zu Professuren berufen und mit dem begehrten Reisekaderstatus ausgestattet wurden. Sogar zu Institutsdirektoren wurden wir ernannt - zunächst.
Natürlich haben wir nicht nur gearbeitet. Wir haben auch viel geraucht, mit Graffi um die Wette. Und uns erfolgreich das Rauchen abgewöhnt. Als Zwischenschritt dazu hatte sich Graffi die Zigaretten immer in der Mitte durchgeschnitten.
Und gefeiert haben wir viel, oft unter Absingen von „A-lo-a-he, am Michigan See“ – ohne zu wissen, wie man das schreibt. Insbesondere in den frühen Jahren gab es sowohl privat als auch im Institut und auch abteilungsintern stürmische Feste.
Es gab auch Institutsausflüge und Dampferfahrten aller Instituts- und Klinikangehörigen. Junggesellen, die wir zunächst waren, wussten zu schätzen, dass es in der Geschwulstklinik ein großes Reservoir an unverheirateten Schwestern und Physiotherapeutinnen gab. Das Neutronenhaus, das heutige Walter-Friedrich-Haus, gab vor seinem eigentlichen Bezug im Frühjahr 1955 einer riesigen Faschingspartie Raum. Aus der Geschwulstklinik wurden uns Matratzen geliehen, damit die noch leeren Laborräume gemütlicher eingerichtet werden konnten. Die meisten Abteilungsleiter hatten reichlich gespendet, und Chefanästhesist Lothar Barth und ich begrüßten am Eingang jeden Teilnehmer mit einem mit Wodka gefüllten Reagenzglas. Ich hielt das allerdings leider nicht lange durch…
Aber für Heinz, den Workaholic, galt bei Festen: „Schnaps ist Schnaps und Dienst ist Dienst“. Ich erinnere mich lebhaft an eine private Silvesterfeier bei Bielkas im Ärzte- und Schwesternhaus, als Heinz für meine Vorstellung viel zu früh– es war noch lange nicht hell – beschloss, jetzt sei Schluss und wir müssten gehen. (Fünf Schritte bis zum nebenstehenden Punkthaus). Auf meinen energischen Protest erwiderte er, er müsse vormittags wieder ins Labor. Und das am 1. Januar! So war der Bielka schon damals.
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Nach meiner Rückkehr aus Köln hatten Heinz und ich gemeinsam mit Erhard Bender, Peter Langen und Ruth Lindigkeit im Herbst 1960 eine lose Diskussionsgruppe gegründet. In unregelmäßigen Abständen wollten wir auf dem sich gerade überaus stürmisch entwickelnden Gebiet von Molekularbiologie und Molekulargenetik Informationen sammeln und austauschen und uns weiterbilden. Heinz war gerade dabei, sich von der Krebsforschung abzunabeln und sich den Ribosomen zuzuwenden. Und ich hatte nicht zuletzt während der Literaturkolloquien allmählich dem Lyssenkoismus abgeschworen und mich in Köln und Westberlin zum Genetiker gemausert. Folgerichtig trug ich auf unserer ersten Zusammenkunft über die fernab von uns gerade mühsam beginnende Analyse des Aminosäure-Codes vor.
Nach dem Mauerbau und nach der Bildung des Zentralinstituts für Molekularbiologie war unsere Diskussionsrunde nicht nur weiter aktiv, sondern fand als „Problemkommission Nukleinsäuren und Viren“ sogar offizielle Anerkennung und löste die Bildung weiterer Problemkommissionen aus. Und wir luden uns auch Gäste von außen ein. Prominentester Gast war Max Delbrück. Den hatte ich 1960 in Köln kennengelernt und der war mir seit dem bis zu seinem Tode ein väterlicher Freund, anregender Lehrer und großzügiger Förderer.[5]
Wenn ich mich recht erinnere lief das Seminar mit Delbrück mehr oder weniger privat ab. Meinen Vorschlag, „einen kleinen Kreis Nukleinsäure-Enthusiasten zusammenzurufen, ist genau das, was ich mir vorgestellt hatte“ schrieb er mir vor seiner Abreise aus Köln. Sein Forschungsgebiet stand damals ja immer noch in einer exotischen Ecke und den wenigsten war bewusst, dass unser Gast als Kooperationspartner von Timoféeff-Ressovsky einer der Gründerväter der Molekularbiologie war. So trafen wir uns mit ihm nur in meinem großen Arbeitszimmer im Institut, in dem Delbrück einst schon mit Timoféeff zusammengesessen hatte, und später noch bei uns zu Hause. Nachtquartier wurde nicht von Instituts- oder gar Akademieleitung vermittelt, sondern von uns im Bucher „Schlosskrug“ (der heute zu Heinz‘ Ärger „Il Castello“ heißt). Bezahlt hat er das Zimmer wohl selbst.
Vor dem bedeutenden Besuch hatten sich meine Frau und ich extra ein Gästebuch gekauft. Über Delbrücks sparsamen Eintrag waren wir ziemlich enttäuscht.
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Bielka und mich einte auch das Bestreben, nicht nur zu forschen, sondern auch zu lehren. Heinz hatte 1948-49 ja schon als Neulehrer gearbeitet. Und ich war nebenberuflich journalistisch tätig und schrieb für zahlreiche Blätter zunehmend über populärwissenschaftliche Themen. Beide begannen wir 1962-63 an der Humboldt-Universität erste Vorlesungen zu halten. Ich trug über „Mikrobengenetik“ vor. Eine der Hörerinnen war Ingrid Grummt, die später in Bielkas Institut arbeitete und ihn durch Ihre Flucht in den Westen in große Schwierigkeiten brachte. Heute ist sie führende Molekularbiologin am DKFZ.
Ein weiterer Hörer war Heinz Schilling. Nach meiner Erinnerung war er ein Studienkollege von Bielka. Der arbeitete inzwischen als Sekretär bei der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse, der späteren Ost-URANIA. Da ich zu einem Thema lehrte, zu dem es in der DDR fast keine Literatur gab, verteilte ich zu den Vorlesungen regelmäßig schriftliche Zusammenfassungen. Das veranlasste Schilling zu der Anfrage, ob ich diese nicht seiner Gesellschaft als Referentenmaterial zur Verfügung stellen könnte. Ich hatte nichts dagegen.
Und Bielka erweiterte das Material mit Hinweisen auf Literatur über Nukleinsäuren.
Die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse URANIA – deren Nachwendepräsident ich 1990 schließlich wurde – war allerdings streng parteikontrolliert. Und in der SED-Führung waberte immer noch die sowjetische Diffamierung der Genetik als reaktionäre Pseudowissenschaft. Unsere gutgemeinte Bereitschaft wurde Schilling zum Verhängnis. Informationen über Genetik durften unter den URANIA-Referenten nicht verbreitet werden. Er verlor seinen Posten.
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Aber das Referentenmaterial war natürlich nicht unsere einzige gemeinsame Publikation. Bereits 1962 veröffentlichten wir gemeinsam mit dem Radiologen der Geschwulstklinik eine Zusammenstellung der Einrichtungen, an denen in der DDR Krebsforschung und -therapie betrieben wurde.[6] 1969 erschien Bielkas mehrfach aufgelegte Monographie Molekularbiologie der Zelle mit unserem gemeinsamen Kapitel über die Regulation der Nukleinsäure- und Proteinbiosynthese.[7] Drei Jahre später schrieb Heinz zahlreiche Texte für das von mir herausgegebene Meyers Taschenlexikon Molekularbiologie.[8]
Und ich durfte zu seinem einflussreichen 1985er Lehrbuch Molekularbiologie ein Kapitel über „Virale Genome“ beisteuern.[9]
Sogar eine „wissenschaftliche Originalarbeit“ stammt von uns, in der wir über die Ergebnisse berichten, die unsere Mitarbeiter Ilse Junghahn und Hubert Pöche bei Versuchen zur zellfreien Proteinsynthese erhalten hatten – sogar in einer westdeutschen Zeitschrift, was von unseren Oberen überhaupt nicht mehr gern gesehen war.[10]
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Dass ich Vorlesungen über Molekularbiologie hielt und ein Büchlein über Bakteriophagen-Forschung veröffentlicht hatte[11], sprach sich übrigens bis nach Rostock herum. Die dortige Universität verlor ihren Mikrobiologen Professor Friedrich Mach, der 1964 in ein viel schöneres Institut nach Greifswald wechseln konnte und hatte auch keinen Genetiker. Deshalb beschloss die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät 1964, mich auf die erste Stelle einer entsprechenden Berufungsliste zu setzen. Gegenüber dem Staatssekretär für Hoch- und Fachschulwesen, Hans-Joachim Gießmann, wurde das unter anderem so begründet: „Durch die Berufung eines Mikrobengenetikers an das Institut für Mikrobiologie ergibt sich die einmalige Gelegenheit, gleichzeitig die unerträgliche Lücke in der Genetik zu schließen“. Der Senat stimmte der Liste zu, aber der Genosse Rektor schrieb anschließend an den Staatssekretär, er persönlich sei „der Meinung, dass die wechselvolle Mitarbeit des Herrn Dr. Erhard Geißler in gesellschaftlichen Organisationen Anlass sein sollte, gründlich zu überprüfen, ob Dr. Geißler die Eignung besitzt, an unserer Math.-Nat. Fakultät als Hochschullehrer zu wirken“. Erstaunlicherweise berief mich Gießmann am 19. Februar 1965 trotzdem zum Professor mit Lehrauftrag für das Fach Mikrobengenetik.[12] Kurz zuvor war Bielka als Nachfolger von Erwin Negelein Direktor des Instituts für Zellphysiologie in Buch geworden. Unsere Ex-Genossenschaft war zu dieser Zeit also noch kein sonderliches Problem.
Und aus den Augen verloren wir uns auch nicht, zumal ich mit unseren mikrobengenetischen Forschungen unter schlechten Laborbedingungen in Rostock bald am Ende war, 1971 mit meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern zurück nach Buch kam und nur noch – bis 1983 – in Rostock Genetik-Vorlesungen hielt.
Aber die Gnade der frühen Geburt war dann mal erschöpft.
Ende der sechziger Jahre kamen dann heftige ideologische, politische wissenschafts- und hochschulpolitische Stürme auf und wir beiden Institutsdirektoren sahen uns als Abteilungsleiter im neu gebildeten Zentralinstitut für Molekularbiologie unter Bereichsdirektorin Genossin Sinaida Rosenthal wieder. Die führte ein überaus strenges, nicht nur fachlich orientiertes Regime. Mir war unbehaglich, und Bielka wohl auch. Als ich Anfang 1979 eine inoffizielle Anfrage erhielt, ob ich nicht nach Rostock zurückkommen wollte, ergriff ich die Chance um mich aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Ich ging zu Institutsdirektor Fritz Jung, erzählte ihm von dem inoffiziellen Ruf und erklärte, lieber in Buch bleiben zu wollen, aber nur als Leiter einer selbständigen Abteilung. Anschließend traf ich mich mit Heinz und unterrichtete den über meinen Schritt. Und der ging auch zu Jung, mit dem gleichen Ansinnen. Das löste erhebliche Turbulenzen aus, führte aber schließlich dazu, dass Rosenthals Bereich mit Wirkung zum 1. Januar 1980 aufgelöst und wir Leiter selbständiger Abteilungen wurden.
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Auf nationalen Kongressen und anderen wissenschaftlichen Veranstaltungen begegneten wir uns natürlich häufig. Lebhaft erinnere ich mich an die heftigen Auseinandersetzungen von Heinz und mir mit Professor Jacob Segal auf verschiedenartigsten Tagungen und Kolloquien. Auch nach der Entlarvung des Lyssenkoismus als Scharlatanerie und der 1962 erfolgten Rehabilitierung von Genetik und Molekularbiologie durch die sowjetische Partei- und Staatsführung propagierte Segal unbeeindruckt eine „Vererbung erworbener Eigenschaften“ und entwickelte eigenartige Nukleinsäure- und Proteinstrukturmodelle. Noch schlimmer, gemeinsam mit dem einflussreichen und nicht minder wortgewandten Dissidenten-Autor Stefan Heym löste er weltweite Aufregung aus, als er – ebenso wie der KGB, aber wohl unabhängig von dem – behauptete, der AIDS-Erreger HIV sei in Genlabors des US-Militärs konstruiert worden. Die Auseinandersetzung mit derartigen „Fake-News“ und ihren Folgen beschäftigt mich noch heute.[13]
Internationale Kongresse konnten wir – vor allem wegen unserer unterschiedlichen Arbeitsgebiete – nur selten gemeinsam besuchen. Einmal waren wir, 1966, in Wien, auf der Jahrestagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. Dort verband uns unter anderem unser gemeinsamer Appetit auf gebratener Leber. Leber gab es wie so vieles anderes auch, Spargel beispielsweise, in der DDR kaum zu kaufen. Das wurde alles im Westen verscherbelt. Also nutzen wir die Gelegenheit in Wien, endlich mal wieder Leber essen zu gehen. Wie groß war unsere Enttäuschung, dass die uns vorgesetzte Speise nicht die erwartete gebratene Leber war, sondern ein wie Nierchen süßsauer zubereitetes Gericht.
Aber unsere Freundschaft überstand nicht nur gastronomische Katastrophen, sondern auch lange Durststrecken. Anfang der 1960-er Jahre hatte uns Graffi nach Hiddensee abkommandiert. Dort sollten wir gemeinsam mit unseren Frauen einen alten Kahn begutachten, den Graffi eventuell als Ferienobjekt für die Abteilung kaufen und umbauen wollte. Es gab viel Sonne und offenbar wenig zu trinken. Ich erinnere mich lebhaft, dass wir ständig „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ intonierten. Und der Kahn war auch nicht zu gebrauchen.
Beide waren wir der Musik sehr verbunden. Bielka spielte Geige, ich Klavier – und, bis zur Bombardierung des Leipziger Konservatoriums im Dezember 1943 – Orgel. Beide spielten wir nach dem Krieg in kleinen Kapellen und verdienten uns dabei manche Bockwurst mit Salat. Beide durften wir uns auch – sehr zur Enttäuschung des Meisters – an Graffis Kompositionen versuchen. Und bei Heinz zu Hause hörten wir immer viel gute Musik. Dort hörte ich zum ersten Mal bewusst Tschaikowskys Klavierkonzert Nummer 1. Am nächsten Tag fuhr ich in den Plattenladen in der Schönhauser Allee und kaufte mir die Platte. Und dazu kaufte ich mir dann später auch einen Plattenspieler.
Es ist nur folgerichtig, dass Bielka sich schließlich eine Beethoven-Frisur wachsen ließ und dass er in den Armen einer begnadeten Pianistin landete. Dort wünsche ich ihm und damit auch ihr noch viele glückliche Jahre, so gesund wie nur irgend möglich.
Weiterführende Literatur:
Heinz Bielka, Geschichte der Medizinisch-Biologischen Institute Berlin-Buch, Springer 1997, 2002
Heinz Bielka, Aus meinem Leben. Frieling-Verlag 2018
Erhard Geißler, Drosophila oder die Versuchung, Berliner Wissenschafts-Verlag 2010
[1] A. Graffi und H. Bielka 1959: Probleme der experimentellen Krebsforschung. Geest & Portig Leipzig
[2] Zitiert nach H. Bielka, 2000: „Berlin-Buch: Zentrum der Krebsforschung in der DDR“. In: Wolfgang U. Eckart (Hrsg.), 100 Years of Organized Cancer Research. Georg Thieme Verlag, 83-88.
[3] Gustav Wagner, 2000: „Vincenz Czerny und Karl Heinrich Bauer- Zwei Heidelberger Krebsforscher“. In: Wolfgang U. Eckart (Hrsg.), 100 Years of Organized Cancer Research. Georg Thieme Verlag, 31-36.
[4] Es gab in der Geschwulstklinik noch einen Internisten namens Dr.med. Walter Lührs.
[5] Erhard Geißler 2000, ‘No West German translation for political and technical reasons…’ Erinnerungen an Max Delbrücks Einfluss auf die DDR-Genetik”. In: Michael Kaasch & Juachim Kaasch (Hrsg.) Das Werden des Lebendigen, Verlag für Wissenschaft und Bildung Berlin, 169-201.
[6] H. Bielka, H.J. Eichhorn und E. Geißler 1962: Zusammenstellung der experimentellen und klinischen onkologischen Arbeiten in den Instituten und Kliniken der Deutschen Demokratischen Republik. Neoplasma, 9, 265. -274.
[7] E. Geißler und H. Bielka 1969: Regulation der Nukleinsäure-und Proteinbiosynthese. In: Molekulare Biologie der Zelle. H. Bielka (Hrsg.), 2. Aufl., VEB Gustav Fischer Verlag Jena, 175-200
[8] Erhard Geißler (Hrsg.), Meyers Taschenlexikon Molekularbiologie..VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1972, 1974, Verlag Harri Deutsch, Frankfurt/Main und Zürich, 1972.
[9] H. Bielka, Molekularbiologie. Gustav Fischer Verlag Jena 1985
[10] H. Pöche, I. Junghahn, E. Geissler und H. Bielka 1975: Cycloheximide resistance in Chinese hamster cells. III. Characterization of cell-free protein synthesis by polysomes. Molec.gen. Genet. 138, 173-177.
[11] Erhard Geißler 1962, Bakteriophagen – Objekte der modernen Genetik. Akademie-Verlag 1962.
[12] Erhard Geißler 2016, „Als Mikrobengenetiker in Rostock: 1964-1983“. [Ausführlicheres] Kalenderblatt April 2016. http://www.mathnat.uni-rostock.de/geschichte/kalenderblatt/kalenderblat…
[13] Erhard Geißler and Robert H. Sprinkle 2013, “Disinformation squared. Was the HIV-from-Fort-Detrick myth a Stasi success?“ Politics and the Life Sciences, 32/2, 2-99.
Erhard Geißler and Robert Hunt Sprinkle 2019, “Were our critics right about the Stasi?
AIDS disinformation and ‘disinformation squared’ after five years”. Politics and the Life Sciences, 38/1 (Spring 2019).
Bilder: Archiv E.Geissler, privat. David Ausserhofer/MDC