Herzen und Hirne von Menschen schützen
Fragen und Antworten zur Nacktmullforschung am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
Warum wollen Forscherinnen und Forscher wissen, wie Nacktmulle auf Sauerstoffmangel reagieren?
Wenn ein Gerinnsel ein Blutgefäß im Gehirn oder im Herzen verschließt, sterben innerhalb von zwei bis drei Minuten Zellen ab. Schließlich werden sie nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Je länger der Herzinfarkt oder Schlaganfall unbehandelt bleibt, desto verheerender sind die Folgen. Nacktmulle haben dieses Problem nicht. Selbst wenn sie eine Weile ganz ohne Sauerstoff auskommen müssen, schlägt ihr Herz ruhig weiter. Sie fallen in eine Art Winterschlaf, aus dem sie sogar nach 18 Minuten ohne Schaden aufwachen. Die Forscherinnen und Forscher des MDC, der Universität von Illinois in Chicago und der Universität von Pretoria in Südafrika sowie andere Kooperationspartner wollten wissen, wie die Nacktmulle das schaffen. Denn wenn Mediziner diesen Prozess beim Menschen nachahmen könnten, würde das viele Leben retten. Ein weiterer Aspekt ist die Hoffnung, Organe für Transplantate besser zu konservieren.
Gibt es Situationen des Sauerstoffmangels für den Nacktmull auch in der Natur?
Sie sind Alltag. Nacktmulle sind sehr soziale Tiere, die in kilometerlangen Höhlen unter der Wüste von Ostafrika leben. Ihre Kolonien haben bis zu 300 Mitglieder. Wenn sich eines schlafen legt, schlafen sie alle – in einem dichtgedrängten Haufen. Da die Höhlen ohnehin sehr stickig sind, bekommen Nacktmulle bei einem ungünstigen Schlafplatz regelmäßig kaum oder gar keinen Sauerstoff ab. Sie brauchen etwas länger zum Aufwachen, danach geht ihr Leben aber normal weiter. Innerhalb von 30 Millionen Jahren haben sie sich perfekt an das extreme Leben in den Höhlen angepasst – mit einem Genom, dass zu 94 Prozent mit dem der Maus identisch ist. Sie haben dabei nichts „neu erfunden“, sondern existierende Mechanismen erweitert und perfektioniert. Das Ergebnis ist erstaunlich – von der Langlebigkeit über die Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz und ein Leben ohne Krebs bis hin zu der Tatsache, dass Nacktmulle Sauerstoffmangel tolerieren können.
Welche Experimente gab es in Berlin?
Die Studie, die im Frühjahr 2017 in „Science“ publiziert wurde, ist eine Kooperation zwischen Laboren in Chicago, Berlin, Pretoria und Cambridge. Die Versuche, wie lange Nacktmulle – und im Vergleich Mäuse – mit wenig oder ohne Sauerstoff auskommen können, haben an der Universität von Illinois in Chicago stattgefunden. Dort wurden für jeden Versuch so wenige Tiere wie möglich verwendet. Die Kammern ohne Sauerstoff waren zudem nicht etwa mit Kohlendioxid, sondern mit Stickstoff gefüllt. Dieses Gas bemerken Tiere nicht, es verursacht keine Panikreaktion. Stattdessen fallen sie innerhalb von Sekunden in einen Zustand, der mit einem Koma vergleichbar ist. Ein Zustand, aus dem die Nacktmulle in den meisten Fällen ohne Probleme aufwachten.
In Berlin gab es für diese Studie keine Versuche am lebenden Tier. Die Gruppe am MDC hat die molekularen Mechanismen aufgeklärt, die den Nacktmullen das Überleben ermöglichen. Im Zeitraum von 2010 bis 2017 hat das Team daher 14 Nacktmulle sowie 16 Mäuse getötet und die Organe der Tiere entnommen, um zum Beispiel den Stoffwechsel in den Geweben zu analysieren. Auch hier wurde jeder Versuch ganz genau geplant, um gemäß dem 3R-Prinzip so wenige Tiere wie möglich zu nutzen und ihnen dabei so wenig Leid wie möglich zuzufügen. Die Versuche wurden in aufwändigen Antragsverfahren vom LaGeSo genehmigt und streng überwacht.
Was haben die Forscherinnen und Forscher dabei entdeckt?
Einen bei Säugetieren bisher völlig unbekannten Stoffwechselweg, der die Nacktmulle mit einem Ersatztreibstoff versorgt. Wenn der Sauerstoff nicht mehr ausreicht, um Glukose aus der Nahrung zu verstoffwechseln, schalten die Tiere auf Fruktose um. Damit können sie die Energieversorgung lebenswichtiger Organe wie Herz und Gehirn aufrechterhalten, deren Zellen besonders sensibel auf Sauerstoffmangel reagieren.
Das Team analysierte zunächst in der Metabolomics Unit 86 Stoffwechselprodukte (Metabolite) in Blut und Gewebeproben und fanden im Blut Fruktose und besonders Saccharose. Ein spezielles Transportmolekül schafft den Spezialzucker in die Zellen. Die Vermutung, dass Nacktmulle ihren Stoffwechsel unbeschadet auf Fruktose umschalten können, prüften die Forscherinnen und Forscher an Herz und Gehirn von Mullen und Mäusen. Sie versorgten die Organe mit einer Nährlösung, die außer Fruktose keine anderen Zucker enthielt. In einer Reihe von Tests waren die Organe der Nacktmulle deutlich leistungsfähiger als die der Mäuse. Synapsen zum Beispiel leiteten auch nach einer Stunde Signale weiter. Für das Herz eines Nacktmulls war es gleichgültig, welchen Zucker es bekam. Es schlug und schlug und schlug.
Wie wollen die Forscher mithilfe dieser Erkenntnis neue Therapien entwickeln?
Der Trick, bei Sauerstoffmangel einfach einen anderen Treibstoff zu nutzen, ist nicht der einzige des Nacktmulls. Das Tier schaltet auch binnen Sekunden seine Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle, ab. Menschen und Mäuse können das nicht, ihre Mitochondrien laufen ohne Sauerstoff weiter. Das beschädigt die Maschinerie der Organelle. Wie man das verhindern kann, wollen die Nacktmullforscherinnen und –forscher noch herausfinden. Dann stehen die Chancen gut, ein Medikament zu entdecken, das die Folgen von Schlaganfall und Herzinfarkt eindämmen kann.
Zunächst wollen Raumfahrtmediziner des Deutschen Instituts für Luft und Raumfahrt (DLR) mit dem MDC-Team zusammenarbeiten und überprüfen, ob sich der Stoffwechsel von Piloten und Extremtauchern bei vorübergehendem Sauerstoffmangel ebenfalls in manchen Geweben von Glukose auf Fruktose umstellt.
Wie wurde die Forschung zu den Nacktmullen finanziert?
Zusätzlich zur Finanzierung des MDC hat 2011 der Europäische Forschungsrat Gary Lewin mit einem ERC Advanced Grant ausgezeichnet, dotiert mit 2,5 Millionen Euro. Dieses Geld war dafür bestimmt, die Physiologie der Nacktmulle zu erforschen.
2018 hat er einen zweiten ERC Advanced Grant bekommen. Der neue ERC Grant bezieht sich auf einen zweiten Forschungsschwerpunkt seines Labors: Lewin und sein Forschungsteam wollen wissen, wie der Tastsinn funktioniert und wie Nervenzellen mechanische Reize wahrnehmen. Bekannt ist, dass die Berührung der Haut ein elektrisches Signal in den Ionenkanälen der Membran von Nervenzellen erzeugt. Die Proteine der Ionenkanäle sind wie Schiffe im Hafen am umgebenden Bindegewebe vertäut und erspüren so den „Wellengang“ ihrer Umgebung. Woraus die molekularen Haltestricke bestehen, ist jedoch noch unbekannt.
Das Forschungsprojekt soll die Verankerungen der Ionenkanäle identifizieren und auf molekularer Ebene charakterisieren. Die Wissenschaftler wollen zudem herausfinden, wie sich diese gezielt und reversibel lösen lassen. Bei Neuropathien sind die Ionenkanäle defekt; Betroffene nehmen schon leichte Berührungsreize als sehr schmerzhaft wahr. Mit Untersuchungen an Mäusen und menschlichen Zellen soll der Boden für Therapien der Sensibilitätsstörungen bereitet werden.
Wie realistisch ist die Perspektive, dass Patientinnen und Patienten einen Nutzen aus Grundlagenforschung ziehen können?
Man braucht Geduld. Gary Lewin zum Beispiel hat als Postdoc in den 1990er Jahren mit Ratten gearbeitet. Wenn die Tiere einen Wachstumsfaktor für Nerven (Nerve Growth Factor, NGF) bekamen, entwickelten sie chronische Schmerzen. Doch diese Schmerzen ließen sich durch einen Antikörper stoppen. 2018 prüfen Pfizer und Eli Lilly den Antikörper Tanezumab in großen Phase-3-Studien mit etwa 7000 Patientinnen und Patienten mit Osteoarthritis, Rückenschmerzen und Krebsschmerzen. Die Chancen auf eine Zulassung stehen gut, denn in Phase zwei war die Wirksamkeit sehr überzeugend. Es wäre das erste Schmerzmedikament seit 50 Jahren, das auf einem neuen Mechanismus beruht und zudem kaum Nebenwirkungen verursacht. Verdienen wird Gary Lewin daran nichts – er hat damals kein Patent eingereicht.